Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Nukleare Rüstung unterliegt keiner Kontrolle mehr“
MOSKAU - Alexander Golts ist russischer Militärexperte und Redakteur des kritischen Internetportals „jeschedewnij schurnal“. Nach dem Studium der Journalistik arbeitete er von 1980 bis 1996 beim Zentralorgan des Verteidigungsministeriums „Roter Stern“. Ein Studienaufenthalt führte ihn ins Zentrum für internationale Sicherheit und Zusammenarbeit der Stanford University (USA). Klaus-Helge Donath hat mit ihm über die aktuellen Entwicklungen gesprochen.
Washington und Moskau haben sich nach mehr als 30 Jahren aus dem INF-Vertrag zurückgezogen. Was bedeutet das für Russland?
In nächster Zeit hat das nichts Schlimmes zu bedeuten, zunächst zumindest. Die USA kündigten den Vertrag auf und warfen Russland zu Recht vor, gegen ihn verstoßen zu haben. Sie behaupten auch, Moskau hätte in einigen Bereichen militärische Überlegenheit erlangen können. Längerfristig könnte der Rückzug aber auf eine atomare Katastrophe hinauslaufen, da nukleare Rüstung keiner klaren Kontrolle mehr unterliegt.
Glauben Sie an die nukleare Hochrüstung in Russland?
Ich glaube nicht, dass Russland der Entwicklung von Nuklearwaffen solche Priorität einräumt.
Was macht Sie so sicher?
Um ehrlich zu sein: In Europa gibt es nicht mehr viele Ziele für einen atomaren Angriff. Das ist auch gut so. Nach 30 Jahren Frieden ist Europa entmilitarisiert. Selbst wenn jemand dort auf die Idee käme, einen großen Krieg zu entfachen, hätte Europa dafür keine ausreichenden Kräfte.
Muss es unbedingt ein neues Wettrüsten geben?
Weder die russischen noch die amerikanischen Anschuldigungen sind so gravierend, dass sie sich nicht mit gutem Willen klären ließen. Doch der gute Wille fehlt.
Woran liegt dieser Unwille?
In Russland und den USA haben sich Denkschulen durchgesetzt, die Atomwaffenkontrolle nicht mehr für nötig halten. Beide Seiten lassen sich bewusst auf Wettbewerb ein nach dem Motto, wer stellt mehr Raketen her, wem geht zuerst die Puste aus? Trump spricht in aller Offenheit davon, wer dem Wettrüsten als erster zum Opfer fallen würde.
Ist das ein Rückfall in die Zeit der 1980er-Jahre vor dem Nato-Doppelbeschluss?
Die Analogie zu den 1980er-Jahren trifft nicht zu. Wir kehren vielmehr in die 1960er zurück, als es noch keine vertraglichen Regelungen gab. Wir laufen Gefahr, wieder am Vorabend der Kuba-Krise anzukommen.