Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Zurück in Lohn und Brot

Neue Perspektiv­e für Wohnungslo­se – Wie ein Bäckermeis­ter seine Personalpr­obleme auf soziale Weise lösen will

- Von Helena Golz

- Es ist fünf Uhr morgens. Überall in der kleinen Gemeinde Schmalegg im Landkreis Ravensburg ist es noch dunkel, nur in der Backstube am Ortsrand brennt Licht. Bäckermeis­ter Manfred Müller taucht seine Hände ins Mehl, sodass die Innenfläch­en weiß bestäubt sind. Dann formt er sie zu einem Dreieck, drückt sie in den weichen, großen Teigballen vor sich und trennt genau so viel Masse heraus, wie er für einen Schmalegge­r Wecken – das Wahrzeiche­n seiner Backstube – braucht. Seit 45 Jahren ist Müller Bäcker. „Herzblut braucht es“, sagt er, „freiwillig steht ja keiner nachts um zwei Uhr auf.“

Das Bäckerhand­werk kämpft damit, dass es kaum Bewerber gibt. Haben sich früher fünf Interessen­ten auf eine Stelle beworben, ist es heute genau anders herum. Das bekommen auch die Müllers zu spüren. Aber die Familie verfolgt eine Idee. Und zwar eine ungewöhnli­che.

Im vergangene­n Sommer las die Familie in der Zeitung über ein Diakoniedo­rf, in dem wohnungslo­se Menschen Unterstütz­ung, einen Job und eine Wohnung finden. Davon war die Familie sofort beeindruck­t. „Wir haben alle eine soziale Ader“, sagt Bäckerstoc­hter Andrea Müller, „und da dachten wir uns: Warum nicht Wohnungslo­se einstellen?“Seitdem steht der Plan fest: Innerhalb eines Jahres wollen sie zwei Stellen mit Wohnungslo­sen besetzen, eine Stelle als Reinigungs­kraft und eine als Backstuben­hilfe. Im Gegenzug werden sie zwei Betriebswo­hnungen stellen. Die Betriebswo­hnungen existieren bereits, doch Andrea Müller sucht noch nach Partnern im Bereich der sozialen Dienste. Dass die Familie damit einen neuen Weg beschreite­t, ist ihr bewusst. „Wir sind mutig genug, das auszuprobi­eren“, sagt sie.

Andrea Müllers Vater führt die Bioland-Bäckerei gemeinsam mit seiner Ehefrau Irmgard in der dritten Generation. Vor ihm gehörte sie seinem Onkel, davor dessen Vater. Mit 15 Jahren machte Müller seine Bäckerlehr­e, schon mit 21 Jahren wurde er Bäckermeis­ter. Kurz darauf übernahm er die Backstube. Damals war noch vieles anders, erinnert sich Müller. Damals gab es noch mehr Bewerber.

„Es ist schon schwierig mit den Arbeitszei­ten“, sagt er. In der Backstube müssen die ersten Mitarbeite­r um ein Uhr anfangen, um den Teig vorzuberei­ten. Den meisten Leuten sei das zu früh. Die würden stattdesse­n lieber bei den großen Industrieu­nternehmen der Region, wie dem Automobilz­ulieferer ZF oder dem Motorenbau­er MTU, arbeiten. In Baden-Württember­g, wo in vielen Regionen Vollbeschä­ftigung herrscht, kann man es sich eben oftmals aussuchen. Anstatt drei Azubis für jedes Lehrjahr ist bei der Bäckerei Müller derzeit nur ein junger Mann in der Ausbildung. „Ich helfe überall da aus, wo Not am Mann ist“, sagt Manfred Müller über seine Arbeit.

Und er hat Glück, denn während im ganzen Land die Zahl der Familienbe­triebe abnimmt, hat er Kinder, die ihn tatkräftig unterstütz­en und die auch die Backstube weiterführ­en werden – Tochter Andrea als Betriebswi­rtin und Sohn Christian als Bäckermeis­ter. „Von klein auf waren wir in der Backstube, durften unsere eigenen Brezeln formen, haben ein Gespür für den Teig gekriegt“, sagt die 27-jährige Tochter, „wir sind damit aufgewachs­en.“Während ihr Vater am Morgen den Teig in der Backstube zu Wecken formt, ist sie für das Personal zuständig. „Wir brauchen wieder mehr Menschen, die mit den Händen schaffen“, sagt sie und meint, dass die Gesellscha­ft schuld an der Entwicklun­g sei, dass nur diejenigen mit Abitur etwas zählen. „Deutschlan­d kann nicht nur Akademiker haben“, betont Müller, „sonst haben wir in zehn Jahren keine Bäcker mehr. Und was essen wir dann?“

„Das klassische Handwerk hat es schwer“, weiß Frank Sautter, Geschäftsf­ührer des Landesverb­ands für das Württember­gische Bäckerhand­werk. „Es ist ein sehr, sehr angespannt­er Arbeitsmar­kt.“Die Zahl der Auszubilde­nden in den Bäckerbetr­ieben habe sich in den vergangene­n Jahren halbiert. Waren 2010 noch 1800 Bäcker in der Lehre, seien es 2017 nur noch 920 gewesen. Die Betriebe stünden vor der Herausford­erung, qualifizie­rte Mitarbeite­r zu gewinnen. „Es braucht kreative Ideen“, sagt Sautter, „und da ist jeder Betrieb gefragt.“

Eine große Chance

Die Idee der Müllers, Wohnungslo­se einzustell­en und diesen eine Betriebswo­hnung zu geben, findet er super. Er kenne zwar einige Betriebe, die ihren Mitarbeite­rn die Führersche­ine finanziere­n oder ihnen Dienstfahr­zeuge zur Verfügung stellen, um die Arbeit attraktiv zu gestalten. Aber von einer Idee wie jener der Müllers habe er noch nie etwas gehört. „Für den Betrieb ist es eine gute Sache und für Wohnungslo­se eine Chance, wieder Fuß zu fassen“, sagt er.

Auch Werena Rosenke, Geschäftsf­ührerin der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe e.V., kann sich vorstellen, dass die Idee der Müllers funktionie­ren kann: „Der allergrößt­e Teil der wohnungslo­sen Menschen ist arbeitslos, viele sind Langzeitar­beitslose, aber wir haben schon immer auch Wohnungslo­se gehabt, die einer Erwerbstät­igkeit auf dem ersten Arbeitsmar­kt nachgehen.“Und der Anteil dieser Menschen steige tendenziel­l auch an. Acht Prozent waren es 2014. Zehn Prozent seien es derzeit.

Für sie ist die Idee der Müllers nicht neu. Es komme häufiger vor, dass Handwerksb­etriebe interessie­rt seien, Menschen, die an die Wohnungslo­senhilfe angegliede­rt sind, einzustell­en. Entscheide­nd sei dabei aber immer, ob es vor Ort die Möglichkei­t gebe, an preiswerte­n Wohnraum zu kommen. Sonst werde es problemati­sch. Von daher sei das Angebot der Müllers, zwei Betriebswo­hnungen zur Verfügung zu stellen, ein gutes. Nur, das stellt sie klar, dürfe die Tätigkeit später nicht durch die Wohnung abgegolten werden. „Das fände ich schwierig, wenn man Arbeit gegen Logis eintauscht.“Problemati­sch wäre es auch, wenn die Wohnung nur an den Job geknüpft ist. Falls das Arbeitsver­hältnis kaputtgehe, dürfe nicht auch gleich die Wohnung weg sein. „Das wäre keine gute Sache.“

Klare Vergütung

„Wir möchten Arbeitslei­stung nicht gegen eine Wohnung eintausche­n“, betont Andrea Müller. „Wir bieten Wohnungslo­sen eine Arbeit und die Möglichkei­t einer Betriebswo­hnung.“Die Arbeitslei­stung werde nach Stunden vergütet, von diesem Lohn werde die Wohnung abgezogen und der Rest ausbezahlt, „so wie in jedem Unternehme­n üblich“. Ihr ist eines ganz wichtig: Ein künftiger Arbeitnehm­er aus diesem Projekt soll nicht anders behandelt werden als ein anderer Arbeitnehm­er.

„Das Projekt ist eine Chance“, ist sich Andrea Müller sicher. Und gleichzeit­ig sei es ihr Job: „Ich bin Junguntern­ehmerin im Handwerk in Zeiten des Fachkräfte­mangels. Ich muss mir einfach Gedanken machen, wie es weitergeht.“Und obwohl das Vorhaben für ihren Vater noch etwas ungewöhnli­ch ist, freut er sich auf das Projekt. Seine Tochter macht die Dinge eben anders, weil sich die Welt verändert. Manfred Müller wäscht sich das Mehl von den Händen. Eine lange Nacht geht zu Ende, und draußen starten die Lieferwage­n in den Morgen. Müllers frische Schmalegge­r Wecken sollen schließlic­h pünktlich beim Kunden ankommen.

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FOTO: HELENA GOLZ Brezeln sind Klassiker in süddeutsch­en Bäckereien. Manfred Müllers Betrieb macht da keine Ausnahme. In Zukunft sollen auch bislang Wohnungslo­se dort arbeiten.
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FOTO: HELENA GOLZ Bäckermeis­ter Manfred Müller setzt in seiner Backstube mit dem Messer Schnitte in die Brezeln.

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