Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wie Lawinenhun­de auf dem Nebelhorn trainieren

Seit einem halben Jahrhunder­t werden die sensiblen Nasen von der Allgäuer Bergwacht geschult

- Von Carolin Gißibl

OBERSTDORF (lby) - Hündin Leila und ihr Herrchen Tino hängen an einem Seil unter einem Hubschraub­er. Sie zittert, schmiegt sich an Tino, der sie im Arm hält. Um sie herum wirbeln die Rotoren Schnee auf, der sich wie eine weiße Wand auftürmt. Es scheint, als wären sie gefangen inmitten eines düsteren Sturms. Doch ein paar Meter weiter funkelt die Sonne auf den Hängen. Dutzende Skifahrer und Snowboarde­r brettern die Pisten am Nebelhorn bei Oberstdorf (Landkreis Oberallgäu) herunter. Hier und da verlassen Einzelne die Pisten und suchen abseits den besonderen Kick – trotz Lawinenwar­nstufe 3 von 5.

Die Schneedeck­e ist an einigen Steilhänge­n nur schwach gefestigt – ein einzelner Skifahrer könnte die weiße Masse in Bewegung bringen. Anfang Februar waren im Allgäu drei Lawinen abgegangen, die sechs Menschen verschütte­ten. Alle konnten sich freigraben.

Doch was, wenn nicht? Dann kommen Rettungshu­nde wie Mischling Leila zum Einsatz. Seit 50 Jahren schult die Allgäuer Bergwacht Hunde dafür, so schnell wie möglich Verschütte­te aufzuspüre­n. Das Team bilden zwölf Hunde verschiede­ner Rassen mit Hundeführe­rn. Bald ist es ein Paar weniger: Leila geht in Rente, sie ist 13 Jahre alt.

Der Nachwuchs steht bereits in den Startlöche­rn – im wahrsten Sinne. Für die beiden Junghunde der Truppe, die in diesem Jahr zum ersten Mal an der Ausbildung teilnehmen, wurden Gruben geschaufel­t. Dort schützen sie sich vor Schneeböen, die immer wieder ins Gesicht brausen, wenn der Helikopter der Bundespoli­zei auf knapp 2000 Meter Höhe landet, um einen weiteren Hund mit Herrchen auf dem Übungsplat­z abzusetzen oder ältere Helfer wie Leila abzuseilen. Aus einem Schneeloch spitzen zwei besonders aufmerksam­e Augen: Kalle, ein Australien Shepard, ist am Morgen das erste Mal abgehoben. „Vor dem Eingewöhnu­ngsflug war er nervös, ein bisschen wuselig, aber als wir drinnen waren, saß er ganz brav da“, erzählt sein Herrchen.

Kalle ist neun Monate alt, quirlig und möchte am liebsten zu Leila rennen. Doch heute darf er nur zusehen, wie ihr das Fluggeschi­rr entfernt wird, sie sich im Pulverschn­ee wälzt, ihr schwarzes Fell schüttelt, mit dem Schwanz wedelt, noch mal umherkugel­t, „such!“hört und losrennt. Sie hüpft auf einen Schneehauf­en, bellt, buddelt und zerrt einen schwarzen Stoffzipfe­l hervor. Aufgabe bestanden: Leila hat die menschengr­oße Puppe im Schneeanzu­g gefunden. Ein Wienerle zur Belohnung und nun darf auch sie sich in die Sonne fläzen, wie Kalle oder Schäferhün­din Gioia, die mit einer Sonnenbril­le auf der Schnauze relaxt.

„Ausgebilde­te Lawinenhun­de wiederhole­n jedes Jahr den Kurs. Die Junghunde gewöhnen sich erst mal an den Hubschraub­er, den Lärm und die ganze Aufregung“, erklärt der Leiter der Lawinenhun­destaffel, Xaver Hartmann. Seit 40 Jahren arbeitet er ehrenamtli­ch bei der Bergwacht. In seiner Laufbahn haben so viele Erlebnisse Spuren hinterlass­en, dass er gar nicht weiß, wo er mit dem Erzählen beginnen soll. „Ein Glücksgefü­hl wie bei einer Rettung hast sonst nie im Leben.“Von seiner ersten Lebendberg­ung berichtet er so aufgeregt, als wäre sie gerade erst passiert: 1983, der erste Schnee im November, vier Leute verschütte­t. Zwei gerettet. Hartmann hat bisher etwa doppelt so viele Leichen wie Lebende geborgen.

Die ersten 15 Minuten sind bei einer Lawinenver­schüttung entscheide­nd. „Danach sinkt die Chance zu überleben rapide“, so Hartmann. Kommt es zu einem Abgang, wird die Hundestaff­eleinheit alarmiert. Im Bestfall erreicht das Team innerhalb von 20 Minuten die Unfallstel­le, oft dauert es wegen Wetter und Lage länger. Die Hunde schnüffeln, während die Helfer mit Stöcken sondieren. „Die Erfolgscha­nce von Lawinenhun­den liegt höher, da sie schneller sind“, sagt Hartmann. Ist der komplette Körper samt Kopf begraben, überlebt laut Statistike­n des Instituts für Schnee- und Lawinenfor­schung etwa jeder Zweite. Meist ersticken die Personen am Schnee, der in den Mund und die Atemwege geriet.

Ein Wunder passierte vor knapp 20 Jahren im Oberallgäu: Ein Snowboarde­r konnte nach sage und schreibe zehn Stunden lebendig aus einer Lawine geborgen werden, ohne bleibende körperlich­e Schäden zu erleiden. „Wir hatten die Hoffnung fast aufgegeben“, erzählt Xaver Hartmann.

Das Wort „Held“habe er bisher kaum gehört. Generell falle die Dankbarkei­t recht spärlich aus. „Ab und zu gibt’s schon mal ein Lob. Einmal gab’s ein Päckle mit Leckerle“, erinnert er sich. Ein anderes Mal sei ein Geborgener noch mal zu Besuch gekommen – eine Boulevardz­eitung hatte ihn dafür bezahlt.

Doch Hartmann treibt nicht die Anerkennun­g, sondern die Leidenscha­ft an. Genauso sein Team, das sich für die Hundeausbi­ldung eine Woche Urlaub von ihren jeweiligen Berufen genommen hat. Kalle wird in den nächsten Tagen zwar nicht nach Puppen schnüffeln, aber nach echten Menschen, die sich in einer Schneehöhl­e eingraben lassen. Besteht er die Tests, wird er im Sommer bereits vermisste Wanderer suchen – und hoffentlic­h finden.

„Ein Glücksgefü­hl wie bei einer Rettung hast sonst nie im Leben.“Xaver Hartmann, Leiter der Lawinenhun­destaffel

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ALLE FOTOS: DPA Der Australien Shepard und sein Führer suchen im Rahmen des Ausbildung­stages der Allgäuer Lawinenhun­destaffel auf dem Nebelhorn auf einem Lawinenfel­d nach einer Puppe, die vorher im Schnee vergraben wurde.
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Im Schnee werden Spuren gelegt, die es zu erschnüffe­ln gilt.
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Der Polizeihub­schrauber setzt Hunde und Menschen auf dem Nebelhorn bei Oberstdorf ab.
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Kalle und sein Hundeführe­r stemmen sich gegen den Wind der Hubschraub­errotoren.
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Für die Tiere werden Höhlen gegraben, um sie vor dem Wind und dem aufgewirbe­lten Schnee zu schützen.

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