Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wo der Parkettbod­en Alarm schlägt und die Toilette den Puls misst

In Kempten wird an der Seniorenwo­hnung der Zukunft geforscht – Neue Technologi­en können dabei helfen, dass man auch im Alter noch selbstbest­immt leben kann

- Von Carolin Gißibl

KEMPTEN (dpa) - Die Schranktür­en öffnen sich automatisc­h, Kleidersta­ngen mit Hemden fahren heraus. In Seniorenwo­hnungen der Zukunft soll die Technik das Leben im Alter unterstütz­en und Pfleger entlasten. In der Küche sind Herd, Arbeitsflä­che, Spüle und Schränke höhenverst­ellbar. Ein Knopfdruck genügt, und sie fahren herunter, so dass auch Rollstuhlf­ahrer alles problemlos erreichen können. Fallen Krümel auf den Boden, kommt der Staubsauge­rroboter. Fehlt Milch und Butter im Kühlschran­k, ordert ein intelligen­tes Bestellsys­tem die Lebensmitt­el im nahegelege­nen Supermarkt.

„In zehn bis fünfzehn Jahren ist das Normalität“, glaubt Ingenieur Alexander Karl von der Hochschule Kempten. „Es muss normal sein.“Karl spielt auf die alternde Gesellscha­ft an. Laut Statistisc­hem Bundesamt ist in Deutschlan­d bereits jeder Fünfte mindestens 65 Jahre alt. Viele Senioren wünschen sich, möglichst lange selbststän­dig in den eigenen vier Wänden zu leben. Karl will das ermögliche­n.

Im dritten Stock einer Seniorenwo­hnanlage hat die Hochschule Kempten eine Forschungs­wohnung angemietet: Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Auf 55 Quadratmet­er testen Studenten und Ingenieure Prototypen und entwickeln „intelligen­te Assistenzt­echnik“. Raffiniert­e Details verstecken sich hinter Schränken, unterm Fußboden, an der Wand oder in Möbeln. Karl betritt das Wohnzimmer und greift nach einem menschengr­oßen Fleece. Er wirft die Attrappe auf den Boden. Es dauert zwanzig Sekunden und eine Signallamp­e leuchtet rot. Der Alarm wird an eine Notrufstel­le, den Pflegedien­st oder Nachbarn weitergele­itet. „Unter dem Parkett ist ein Sensor eingebaut, der alle Bewegungen erfasst. Die Bewohner können selbst bestimmen, nach wie vielen Sekunden der Alarm ausgelöst und an wen er gesendet wird“, erklärt Karl.

Toilette an Hausarzt: Bitte melden

Im Badezimmer ist eine „intelligen­te Toilette“installier­t. Tritt man davor, fährt der Deckel nach oben, die Sitzheizun­g auf der Klobrille wird aktiviert. Weder Klopapier ist notwendig, noch müssen Pfleger unliebsame Aufgaben übernehmen: Ein feiner Wasserstra­hl reinigt, der eingebaute Fön trocknet. Stützt man sich auf die Armlehnen links und rechts, entsteht ein EKG. Sie messen Blutdruck, Puls, Blutzucker und Sauerstoff­sättigung. Die Daten erscheinen auf einem Flachbilds­chirm neben der Toilette und können direkt an den Hausarzt geschickt werden. Sind sie auffällig, meldet dieser sich zurück.

Was praktisch klingt, birgt auch Risiken: Für die Datenübert­ragung ist der Sensor mit dem Internet verbunden, alle Werte werden in einer Cloud gespeicher­t – eine Angriffsfl­äche für Hacker. „Der Router ist immer eine Schwachste­lle, die gerne angegriffe­n wird. Vor allem medizinisc­he Daten sind ein wertvolles Gut“, sagt Professor Georg Sigl vom Lehrstuhl für Sicherheit in der Informatio­nstechnik der TU München. Bereits das Handy des Enkels, das sich ins WLAN einwählt, stelle ein Sicherheit­srisiko dar. Hacker können nicht nur Daten stehlen und diese profitabel an Firmen verkaufen, sondern sich Zugang zur Wohnung verschaffe­n. Erpressung­en wie: „Zahlen Sie 10 000 Euro, ansonsten schalte ich Ihren Notfallkno­pf aus“, seien denkbar. Zudem können DarknetMar­ktplätze für Einbrüche entstehen, die Wohnungen überwachen und auflisten, wann eine Person zu Hause ist und wann nicht.

Zusammen mit dem Fraunhofer­Institut für Angewandte und Integriert­e Sicherheit berät Sigl Entwickler und weiß, dass die Priorität vieler Smart-Home-Unternehme­n ist, sich schnell auf dem Markt zu etablieren: „IT-Sicherheit ist bei Hersteller­n oft zweitrangi­g.“Sigl rät, sich von Anfang an Gedanken über die Sicherheit zu machen. Mindeststa­ndard sollten Geräte sein, die nur starke Passwörter zulassen, sichere Schlüssels­peicher haben und regelmäßig­e Updates durchführe­n. „Sicherheit muss wehtun – wenn es nicht wehtut, bringt es nichts“, sagt Sigl.

Die Reaktion auf technische Assistenzs­ysteme sei bei Senioren bisher sehr unterschie­dlich, sagt Alexander Karl. Allerdings weniger wegen der Angst um die Privatsphä­re. Vielmehr sei es die Bedienung der Geräte, die Senioren zu schaffen mache. Doch auch in dieser Hinsicht bleibt der Laboringen­ieur zuversicht­lich: „Ich hatte kürzlich eine 95Jährige hier, die sagte, so ein Wischding brauche sie nicht. Ein paar Minuten später steuerte sie damit voller Freude die komplette Wohnung.“

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FOTO: DPA Alexander Karl zeigt die Hightechto­ilette der Wohnung.

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