Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Nächster Schritt in Richtung Brexit-Wende
Eine Verschiebung des Austrittstermins wird wahrscheinlicher – die wichtigsten Antworten im Überblick
LONDON - Punktsieg für die EU-Anhänger: Die britische Premierministerin Theresa May will das Parlament über eine Brexit-Verschiebung abstimmen lassen. Das kündigte sie am Dienstag bei einer Erklärung im Unterhaus in London an. Zuvor hatte sie im Streit um den EU-Austritt immer strikt am Austrittsdatum 29. März festgehalten. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Wie sehen Mays Brexit-Pläne aus?
In neuen Gesprächen mit den EUPartnern wollen die Premierministerin und ihr Brexit-Minister Stephen Barclay Änderungen am Austrittsvertrag und der politischen Erklärung erreichen. Hauptziel ist die zeitliche Begrenzung der sogenannten Auffanglösung („Backstop“) für Nordirland. Dies wünschen sich konservative Hardliner und die nordirische Protestantenpartei DUP. Brüssel und Dublin haben dies stets verweigert mit dem Verweis auf das Karfreitagsabkommen von 1998, das den blutigen Bürgerkrieg in der britischen Provinz beendete. Möglich scheint lediglich eine Präzisierung des Wunsches beider Seiten, den Backstop durch bessere Ideen zur Offenhaltung der inneririschen Grenze unnötig zu machen. In 14 Tagen will May die zusätzliche Vereinbarung mit Brüssel, wohl in Form einer Vertragsergänzung, dem Unterhaus vorlegen. Falls das britische Parlament das Verhandlungspaket erneut ablehnt, soll es tags darauf die Möglichkeit eines Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung explizit verwerfen. Zu guter Letzt würde die Premierministerin dem Parlament „eine kurze, zeitlich limitierte Verlängerung der Austrittsperiode“bis Ende Juni vorlegen.
Warum handelte May jetzt?
Die konservativen Rebellen wollten am Mittwoch einem überparteilichen Gesetzentwurf der beiden Ex-Minister Yvette Cooper (Labour) und Oliver Letwin (Torys) zustimmen. Er soll die Regierung auf eine Verlängerung der Austrittsperiode bis Ende des Jahres verpflichten, falls nicht bis 13. März das Unterhaus dem Austrittsvertrag zugestimmt hat. Damit würde der Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung („no deal“) ausgeschlossen, den die große Mehrheit der Parlamentarier ablehnt. Den Termin hat sich May jetzt zu eigen gemacht; mit ihrem eigenen Vorpreschen bewahrt sie die Handlungsfähigkeit der Regierung. Hingegen hätte die Verabschiedung des Cooper/Letwin-Gesetzes „weitreichende Konsequenzen für die Regierbarkeit des Landes“, warnte die Premierministerin. Bisher liegt nämlich die Gesetzesinitiative in allen wichtigen Angelegenheiten ausschließlich bei der Regierung.
Wie reagiert die Opposition?
Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn kanzelte Mays Vorgehen als „grotesk und waghalsig“ab; statt eine Entscheidung nochmals hinauszuzöAufgrund gern, solle die Premierministerin schon jetzt eine Verlängerung der Austrittsperiode beantragen. Der Parteilinke wirbt am Mittwoch im Parlament für Labours Brexit-Plan: den Verbleib in einer Zollunion mit der EU und enge Anbindung an den Binnenmarkt. Sollte das Unterhaus wie erwartet diesen weichen Brexit ablehnen und auch „No Deal“nicht kategorisch ausschließen, werde man zur Vermeidung des „Tory-Brexit“ein zweites Referendum befürworten, gab Labour am Montagabend bekannt.
Warum fasst der EU-Skeptiker Corbyn plötzlich eine neuerliche Volksabstimmung ins Auge?
des Drucks von der Basis seiner Labour-Partei und der EUFreunde im Schattenkabinett. Zudem hat der Fraktionsaustritt von neun Abgeordneten die Partei erschüttert. Neben Corbyns Persönlichkeit und dem schwelenden AntisemitismusStreit nannten die Abtrünnigen Labours EU-Politik als Hauptgrund. Acht Volksvertreter haben sich mit drei Tory-Rebellen zur Gruppe unabhängiger Abgeordneter (TIG) zusammengefunden.
Wie wahrscheinlich ist das zweite Referendum?
Nicht sehr. Mindestens zwei Dutzend Abgeordnete aus mehrheitlich austrittswilligen Wahlkreisen werden sich der neuen Parteilinie verweigern. Ohnehin ist diese heftig umstritten zwischen EU-Freunden und den EU-Gegnern. Für Labour könnten „ausschließlich gewählte Vertreter“sprechen, sagte Brexit-Sprecher Keir Starmer in Interviews und stellte die Alternative der möglichen Abstimmung vor: Das Wahlvolk solle zwischen Mays Austrittsvertrag und dem Verbleib im Brüsseler Club entscheiden.
Was sagt das Volk dazu?
Ob den Sozialdemokraten ihr mögliches Eintreten für ein Referendum Stimmen einbringt, ist keineswegs ausgemacht. Zwar sprechen sich seit Monaten rund 55 Prozent der Briten für den EU-Verbleib aus. Die Frage, ob eine zweite Volksabstimmung eine gute Idee wäre, beantwortet hingegen nur ein gutes Drittel mit Ja, erläutert Professor Matthew Goodwin von der Universität Kent.