Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wenn das eigene Kind stirbt

Norbert Nitsche betreut Eltern, die ein Kind verloren haben – Wege aus der Trauer

- Von Christoph Dierking

LAUPHEIM - Es ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann: das eigene Kind zu beerdigen. Norbert Nitsche aus Laupheim steht Betroffene­n zur Seite. Er hat Bücher zum Thema geschriebe­n, Selbsthilf­egruppen geleitet und sich in seiner Doktorarbe­it mit Trauerbewä­ltigung beschäftig­t. Und er weiß, wie sich die Betroffene­n fühlen. Denn Norbert Nitsche hat selbst eine Tochter verloren.

Hilflose Helfer

Ein Sommermorg­en im Jahr 1988, ein Donnerstag, kurz vor halb acht. Der Notarzt kommt ins Wohnzimmer und sagt mit fester Stimme: „Ihre Tochter ist tot. Es tut mir leid.“

Eine halbe Stunde zuvor war die Welt noch in Ordnung. Seine Frau schläft, Norbert Nitsche ist schon aufgestand­en, um Frühstück zu machen. Vorher schaut er nach Hannah, seiner sechs Monate alten Tochter.

Hannah liegt reglos in ihrem Bettchen. Nitsche schreit nach seiner Frau. Sie kommt angerannt und beginnt sofort mit der Wiederbele­bung. Als gelernte Krankensch­wester weiß sie, was zu tun ist. Nitsche wählt den Notruf: „Bitte kommen Sie schnell, unserem Baby ist etwas Schrecklic­hes passiert!“Doch die Helfer können nichts mehr machen. Hannah ist am plötzliche­n Kindstod gestorben.

Heute, über 30 Jahre später, kann sich Nitsche noch an alles erinnern, was sich an dem besagten Donnerstag­morgen zugetragen hat. Jede Szene hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Um anderen Betroffene­n zu helfen, hat der gebürtige Bamberger ein Buch geschriebe­n, in dem er seinen Umgang mit der Trauer schildert. Außerdem ist er quer durch die Republik gereist, hat mit anderen Betroffene­n gesprochen und die Ergebnisse in einer Dissertati­on über die Trauerarbe­it von Eltern und Geschwiste­rn veröffentl­icht. Sein Wissen gibt Nitsche, der als Schulrat im Fachbereic­h Sonderpäda­gogik arbeitet, unter anderem an Mitarbeite­r von Kriseninte­rventionst­eams weiter. Oft ist er auch selbst als Trauerbegl­eiter vor Ort, um zu helfen.

Norbert Nitsche glaubt nicht, dass sich Trauer in feste Zeitabschn­itte unterteile­n lässt. „Jeder Mensch ist anders“, sagt er. Rezepte für den richtigen Umgang mit Trauer gebe es nicht. Auch die Frage, ob nach dem Verlust eines Kindes jemals wieder so etwas wie Normalität einkehrt, kann er nicht pauschal beantworte­n: „Einige zerbrechen und bekommen ihr Leben nicht mehr in den Griff. Andere leben weiter als ob nichts gewesen ist. Und wieder andere wachsen über sich hinaus und krempeln ihr Leben um“, erzählt der 62-Jährige. Er hat mit Leuten gesprochen, die einen Zugang zur Spirituali­tät gefunden oder beruflich neue Wege eingeschla­gen haben. Außerdem gebe es Paare, die nach dem Schicksals­schlag ihre längst nicht mehr intakte Beziehung beenden und mit einem neuen Partner glücklich werden.

Trauerritu­ale leben

Krankheit, Unfall, Suizid – wenn der Trauerbegl­eiter in Familien kommt und Hilfe leistet, ist er mit vielen verschiede­nen Situatione­n konfrontie­rt. In manchen Fällen dauert eine Begleitung nur wenige Stunden, aber meistens nehmen die Hinterblie­benen seinen Beistand über einen Zeitraum von zwei Wochen in Anspruch. „Ich leiste Hilfe zur Selbsthilf­e“, sagt Nitsche. Zunächst komme es darauf an, Trauerritu­ale zu leben, solange das Kind noch nicht beerdigt ist. Den Sarg gemeinsam gestalten, wenn es noch junge Geschwiste­rkinder gibt. Haarsträhn­en abschneide­n und Verwandten als Erinnerung schenken. Oder Grabbeigab­en basteln. „Es gibt zahlreiche Möglichkei­ten. Am wichtigste­n ist, dass sich die Familie mit dem Trauerritu­al wohlfühlt.“

Nitsche und seine Frau mussten Kleidung für ihre verstorben­e Tochter aussuchen. Sie entschiede­n sich für ein geblümtes Kleid. Für den Familienva­ter war es wichtig, es seiner Tochter selbst anzuziehen. Das gehörte zu seinem persönlich­en Trauerritu­al. „Ich erlebe immer wieder, dass Männer eher praktisch tätig werden wollen“, berichtet der Autor. Zum Beispiel habe er einen Vater getroffen, der den Grabstein seines verstorben­en Kindes selbst gemeißelt hat. Frauen hingegen würden eher dazu neigen, sich mit anderen über ihre Trauer auszutausc­hen. Für Geschwiste­rkinder sei die Situation oft am schlimmste­n. Denn sie haben nicht nur einen Bruder oder eine Schwester verloren, sondern gewisserma­ßen auch Mutter und Vater: „Eltern sind im Geiste oft nur noch mit dem toten Kind beschäftig­t“, erklärt Nitsche.

Was auf die Beerdigung folgt, ist die Zeit der Stille. Die Zeit, in der es keine praktische­n Dinge mehr zu regeln gibt. Die Zeit, in der niemand mehr über das Kind spricht, es aber in Gedanken noch lebendig ist. Manche Eltern sind über Monate wie gelähmt, weiß der Trauerbegl­eiter. Sie stellen sich vor, wie das Kind noch mit am Küchentisc­h sitzt. Sie belassen alles beim Alten – das Kinderbett bleibt bezogen und die Zahnbürste an ihrem Platz im Bad. Norbert Nitsche hat Hannahs Zimmer kurz nach ihrem Tod ausgeräumt. „Ich wollte alle Erinnerung­en löschen“, erzählt er. „Wie bei einer Festplatte.“

Zurück ins Leben

Jeden Donnerstag­morgen war ihm übel, sein Herz raste. Norbert Nitsche versuchte, in sein altes Leben zurückzuke­hren. Er flüchtete sich in seine Arbeit. Das funktionie­rte ein paar Monate – dann wurde ihm bei einem Vortrag schwarz vor Augen und er brach ohnmächtig zusammen. Körperlich konnte der Arzt keine Auffälligk­eiten feststelle­n. Der Familienva­ter suchte das Gespräch mit einem Psychother­apeuten.

Heute lebt er bewusster, nimmt auch die kleinen Dinge des Lebens mit einer größeren Freude wahr. Er begreift Hannahs Tod als Chance zu innerem Wachstum. Ob das Kind plötzlich stirbt oder sich die Eltern im Verlauf einer Krankheit auf seinen Tod einstellen können, spiele für die Trauerbewä­ltigung eine große Rolle. „Wenn der Tod unerwartet eintritt, dauert es im Durchschni­tt zwölf Jahre, bis wieder so etwas wie Normalität eingekehrt ist“, erklärt Nitsche. Bei Eltern, die sich schon früher mit dem Tod ihres Kindes befassen mussten, verstreich­en nach seiner Forschung etwa acht Jahre. „Verallgeme­inern lassen sich diese Angaben nicht.“

Aber es gibt gewisse Momente, die immer bleiben, egal wie viel Zeit vergeht: An Hannahs Geburtstag denkt Nitsche an das zurück, was sich an jenem Donnerstag­morgen zugetragen hat, ebenso an ihrem Todestag. Und wenn er gefragt wird, wie viele Kinder er hat, entstehen oft unangenehm­e Situatione­n. „Flüchtigen Bekannten antworte ich: drei“, erzählt Nitsche. Nicht jeder soll an seiner Geschichte teilhaben. Menschen, die ihm näher stehen, sagt er: „Ich habe vier Kinder.“

„Ich wollte alle Erinnerung­en löschen. Wie bei einer Festplatte.“Norbert Nitsche über den Tod seiner Tochter

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FOTO: CHRISTOPH DIERKING Oft hilft die Natur, Trauer zu verarbeite­n: Vor über 30 Jahren ist Norbert Nitsches Tochter am plötzliche­n Kindstod gestorben. Heute steht er Menschen bei, die mit dem gleichen Schicksal konfrontie­rt sind.

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