Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Wenn das eigene Kind stirbt
Norbert Nitsche betreut Eltern, die ein Kind verloren haben – Wege aus der Trauer
LAUPHEIM - Es ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann: das eigene Kind zu beerdigen. Norbert Nitsche aus Laupheim steht Betroffenen zur Seite. Er hat Bücher zum Thema geschrieben, Selbsthilfegruppen geleitet und sich in seiner Doktorarbeit mit Trauerbewältigung beschäftigt. Und er weiß, wie sich die Betroffenen fühlen. Denn Norbert Nitsche hat selbst eine Tochter verloren.
Hilflose Helfer
Ein Sommermorgen im Jahr 1988, ein Donnerstag, kurz vor halb acht. Der Notarzt kommt ins Wohnzimmer und sagt mit fester Stimme: „Ihre Tochter ist tot. Es tut mir leid.“
Eine halbe Stunde zuvor war die Welt noch in Ordnung. Seine Frau schläft, Norbert Nitsche ist schon aufgestanden, um Frühstück zu machen. Vorher schaut er nach Hannah, seiner sechs Monate alten Tochter.
Hannah liegt reglos in ihrem Bettchen. Nitsche schreit nach seiner Frau. Sie kommt angerannt und beginnt sofort mit der Wiederbelebung. Als gelernte Krankenschwester weiß sie, was zu tun ist. Nitsche wählt den Notruf: „Bitte kommen Sie schnell, unserem Baby ist etwas Schreckliches passiert!“Doch die Helfer können nichts mehr machen. Hannah ist am plötzlichen Kindstod gestorben.
Heute, über 30 Jahre später, kann sich Nitsche noch an alles erinnern, was sich an dem besagten Donnerstagmorgen zugetragen hat. Jede Szene hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Um anderen Betroffenen zu helfen, hat der gebürtige Bamberger ein Buch geschrieben, in dem er seinen Umgang mit der Trauer schildert. Außerdem ist er quer durch die Republik gereist, hat mit anderen Betroffenen gesprochen und die Ergebnisse in einer Dissertation über die Trauerarbeit von Eltern und Geschwistern veröffentlicht. Sein Wissen gibt Nitsche, der als Schulrat im Fachbereich Sonderpädagogik arbeitet, unter anderem an Mitarbeiter von Kriseninterventionsteams weiter. Oft ist er auch selbst als Trauerbegleiter vor Ort, um zu helfen.
Norbert Nitsche glaubt nicht, dass sich Trauer in feste Zeitabschnitte unterteilen lässt. „Jeder Mensch ist anders“, sagt er. Rezepte für den richtigen Umgang mit Trauer gebe es nicht. Auch die Frage, ob nach dem Verlust eines Kindes jemals wieder so etwas wie Normalität einkehrt, kann er nicht pauschal beantworten: „Einige zerbrechen und bekommen ihr Leben nicht mehr in den Griff. Andere leben weiter als ob nichts gewesen ist. Und wieder andere wachsen über sich hinaus und krempeln ihr Leben um“, erzählt der 62-Jährige. Er hat mit Leuten gesprochen, die einen Zugang zur Spiritualität gefunden oder beruflich neue Wege eingeschlagen haben. Außerdem gebe es Paare, die nach dem Schicksalsschlag ihre längst nicht mehr intakte Beziehung beenden und mit einem neuen Partner glücklich werden.
Trauerrituale leben
Krankheit, Unfall, Suizid – wenn der Trauerbegleiter in Familien kommt und Hilfe leistet, ist er mit vielen verschiedenen Situationen konfrontiert. In manchen Fällen dauert eine Begleitung nur wenige Stunden, aber meistens nehmen die Hinterbliebenen seinen Beistand über einen Zeitraum von zwei Wochen in Anspruch. „Ich leiste Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt Nitsche. Zunächst komme es darauf an, Trauerrituale zu leben, solange das Kind noch nicht beerdigt ist. Den Sarg gemeinsam gestalten, wenn es noch junge Geschwisterkinder gibt. Haarsträhnen abschneiden und Verwandten als Erinnerung schenken. Oder Grabbeigaben basteln. „Es gibt zahlreiche Möglichkeiten. Am wichtigsten ist, dass sich die Familie mit dem Trauerritual wohlfühlt.“
Nitsche und seine Frau mussten Kleidung für ihre verstorbene Tochter aussuchen. Sie entschieden sich für ein geblümtes Kleid. Für den Familienvater war es wichtig, es seiner Tochter selbst anzuziehen. Das gehörte zu seinem persönlichen Trauerritual. „Ich erlebe immer wieder, dass Männer eher praktisch tätig werden wollen“, berichtet der Autor. Zum Beispiel habe er einen Vater getroffen, der den Grabstein seines verstorbenen Kindes selbst gemeißelt hat. Frauen hingegen würden eher dazu neigen, sich mit anderen über ihre Trauer auszutauschen. Für Geschwisterkinder sei die Situation oft am schlimmsten. Denn sie haben nicht nur einen Bruder oder eine Schwester verloren, sondern gewissermaßen auch Mutter und Vater: „Eltern sind im Geiste oft nur noch mit dem toten Kind beschäftigt“, erklärt Nitsche.
Was auf die Beerdigung folgt, ist die Zeit der Stille. Die Zeit, in der es keine praktischen Dinge mehr zu regeln gibt. Die Zeit, in der niemand mehr über das Kind spricht, es aber in Gedanken noch lebendig ist. Manche Eltern sind über Monate wie gelähmt, weiß der Trauerbegleiter. Sie stellen sich vor, wie das Kind noch mit am Küchentisch sitzt. Sie belassen alles beim Alten – das Kinderbett bleibt bezogen und die Zahnbürste an ihrem Platz im Bad. Norbert Nitsche hat Hannahs Zimmer kurz nach ihrem Tod ausgeräumt. „Ich wollte alle Erinnerungen löschen“, erzählt er. „Wie bei einer Festplatte.“
Zurück ins Leben
Jeden Donnerstagmorgen war ihm übel, sein Herz raste. Norbert Nitsche versuchte, in sein altes Leben zurückzukehren. Er flüchtete sich in seine Arbeit. Das funktionierte ein paar Monate – dann wurde ihm bei einem Vortrag schwarz vor Augen und er brach ohnmächtig zusammen. Körperlich konnte der Arzt keine Auffälligkeiten feststellen. Der Familienvater suchte das Gespräch mit einem Psychotherapeuten.
Heute lebt er bewusster, nimmt auch die kleinen Dinge des Lebens mit einer größeren Freude wahr. Er begreift Hannahs Tod als Chance zu innerem Wachstum. Ob das Kind plötzlich stirbt oder sich die Eltern im Verlauf einer Krankheit auf seinen Tod einstellen können, spiele für die Trauerbewältigung eine große Rolle. „Wenn der Tod unerwartet eintritt, dauert es im Durchschnitt zwölf Jahre, bis wieder so etwas wie Normalität eingekehrt ist“, erklärt Nitsche. Bei Eltern, die sich schon früher mit dem Tod ihres Kindes befassen mussten, verstreichen nach seiner Forschung etwa acht Jahre. „Verallgemeinern lassen sich diese Angaben nicht.“
Aber es gibt gewisse Momente, die immer bleiben, egal wie viel Zeit vergeht: An Hannahs Geburtstag denkt Nitsche an das zurück, was sich an jenem Donnerstagmorgen zugetragen hat, ebenso an ihrem Todestag. Und wenn er gefragt wird, wie viele Kinder er hat, entstehen oft unangenehme Situationen. „Flüchtigen Bekannten antworte ich: drei“, erzählt Nitsche. Nicht jeder soll an seiner Geschichte teilhaben. Menschen, die ihm näher stehen, sagt er: „Ich habe vier Kinder.“
„Ich wollte alle Erinnerungen löschen. Wie bei einer Festplatte.“Norbert Nitsche über den Tod seiner Tochter