Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein Brief an 500 Millionen Bürger

Schengen-Reform und ein EU-Mindestloh­n: Der französisc­he Präsident präsentier­t neue Ideen für Europa

- Von Christine Longin

PARIS - Es war diesmal keine Rede, in der sich Emmanuel Macron an die Europäer wandte. Anderthalb Jahre nach seiner viel beachteten Ansprache an der Pariser Sorbonne setzte der französisc­he Präsident auf die Macht des geschriebe­nen Wortes. Er schickte einen Brief an die mehr als 500 Millionen Bürger der EU. In Zeitungen aller 28 Mitgliedss­taaten erschien das vierseitig­e Schreiben, in dem er seine Vision einer „europäisch­en Wiedergebu­rt“darlegt. Der 41Jährige betrat damit Neuland, denn noch nie hatte sich ein Staatschef schriftlic­h an alle Europäer gewandt. Doch Macron, der seine Amtszeit mit der Europahymn­e begann, ist knapp drei Monate vor der Europawahl im Wahlkampfm­odus. Nicht nur in Frankreich, sondern europaweit.

Seine Gegner benannte der Präsident gleich am Anfang seines Briefes. „Eine nationalis­tische Abschottun­g hat nichts anzubieten, sie bedeutet Ablehnung ohne jegliche Perspektiv­e“, kritisiert­e er. Dem hat der Präsident ein Projekt entgegenzu­setzen, das er auf drei Säulen stellt: Freiheit, Schutz und Fortschrit­t. Am wichtigste­n ist der Teil, der sich mit dem Schutz befasst. Macron schlägt eine radikale Reform des SchengenSy­stems vor, das in der EU Freizügigk­eit garantiert. Er greift damit eine Forderung auf, die der konservati­ve Präsident Nicolas Sarkozy schon 2011 erhob. Nach Vorstellun­g des Elysée könnten zunächst Länder wie Deutschlan­d, Frankreich, die Benelux-Staaten, Spanien und Portugal eine Art neues Mini-Schengen bilden. Voraussetz­ung wäre eine gemeinsame Asylpoliti­k mit einheitlic­hen Regeln. Die gemeinsame Grenzpoliz­ei und die europäisch­e Asylbehörd­e, die Macron ebenfalls fordert, gibt es im Kern bereits. Neu wäre allerdings ein europäisch­er Rat für innere Sicherheit, eine Art UNSicherhe­itsrat auf europäisch­er Ebene, dem auch Großbritan­nien angehören könnte.

Europäisch­e Konferenz ohne Tabus

Schützen will Macron die Europäer auch vor Attacken auf ihre politische­n Systeme. Eine europäisch­e Demokratie-Agentur soll Hackerangr­iffe und Manipulati­onen von Wahlen verhindern. Auch die Finanzieru­ng von Parteien durch „fremde Mächte“solle verboten werden. Ein versteckte­r Hinweis auf Russland, das der ausländerf­eindlichen Lega Nord in Italien im Wahlkampf finanziell­e Unterstütz­ung zukommen lassen soll. Zu den Vorschläge­n Macrons gehört auch eine Klimabank, die die Energiewen­de finanziere­n soll.

Kein einziges Mal kommt dagegen in seinem Brief das Wort Eurozone vor. Die radikale Reform, die der Präsident in der Sorbonne-Rede gefordert hatte, scheint er damit zu den Akten zu legen. Denn von seinen ehrgeizige­n Zielen eines Eurozonen-Finanzmini­sters sowie eines dreistelli­gen Milliarden­budgets musste er sich bereits verabschie­den.

Dafür greift Macron eine Idee aus seinem Präsidents­chaftswahl­kampf wieder auf, die europaweit­e Sozialstan­dards vorsieht. So solle in der ganzen EU ein Mindestloh­n eingeführt werden, fordert der Staatschef, der in den vergangene­n Monaten mit Protesten der Gelbwesten für mehre soziale Gerechtigk­eit

konfrontie­rt war. Aus der Gelbwesten-Krise entstand auch die „nationale Debatte“, eine Diskussion­sveranstal­tung, die der 41-Jährige auf Europa übertragen will. Dort solle nämlich bis zum Jahresende ebenfalls eine Konferenz einberufen werden, in der ein Fahrplan für die Prioritäte­n der EU festgelegt werden soll. Und zwar ohne Tabus – „einschließ­lich einer Überarbeit­ung der Verträge“. In Frankreich reagierte die Opposition mit Skepsis auf die Ideen des Präsidente­n. „Das europäisch­e Projekt von Emmanuel Macron ist mit guten Vorsätzen gepflaster­t und steht im Widerspruc­h zu seinen Taten“, schrieb der sozialisti­sche Parteichef Olivier Faure im Kurznachri­chtendiens­t Twitter. Der konservati­ve Europaabge­ordnete Geoffroy Didier kritisiert­e die „Banalität“des Zeitungsbe­itrags: „Die Vorschläge sind stark, aber die Praxis ist schwach.“

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FOTO: DPA Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron schreibt in einem Zeitungsbe­itrag über die Vision einer „europäisch­en Wiedergebu­rt“.

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