Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ulmer Brücke nach China

In einer Sprachensc­hule in Ulm lernen Kinder schon früh die Sprache des Reichs der Mitte

- Von Annika Gonnermann

ULM - Ein sonniger Samstagmor­gen: Eigentlich müsste das SchubartGy­mnasium zwischen Landratsam­t und Ulmer Hauptbahnh­of verlassen da liegen. Das Wochenende hat Einzug gehalten. Doch weit gefehlt. Jeden Samstag gegen zehn Uhr morgens kommt noch einmal Leben in die aufgestuhl­ten Klassenzim­mer der Schule - nämlich immer dann, wenn die Schule des Chinesisch­en Vereins Süddeutsch­land ihre Pforten öffnet.

Dann dringt die Melodie der chinesisch­en Worte aus den Klassenzim­mern, dann stehen statt Matheforme­ln chinesisch­e Schriftzei­chen an der Wandtafel. Die Kinder, die hier jeden Samstag zum Lernen herkommen, machen das freiwillig neben der Schule. Meist ist mindestens ein Elternteil gebürtig aus China, immer wollen Kinder und Eltern sicherstel­len, dass das Chinesisch im deutschen Alltag nicht verloren geht. Denn so gut wie alle der Schülerinn­en und Schüler zwischen vier und sechzehn Jahren sind in Deutschlan­d geboren – und haben Deutsch als Mutterspra­che.

Kinder sind Zukunft

Für die Leiterin der Schule, Shanshan Liu Schiele, sind diese Kinder die Zukunft. Mit ihren Wurzeln in der deutschen und chinesisch­en Kultur sollen die Chinesen der zweiten und dritten Generation in Deutschlan­d einmal Brücken schlagen und Konflikte zwischen den Kulturen abbauen. „Später, wenn sie im Berufslebe­n sind, verstehen sie beide Kulturen und das ist ganz wichtig.“

Getreu den Zielen des eigens für die Schule gegründete­n Vereins, will Schiele Jung und Alt, Deutsche und Chinesen in Harmonie zusammenbr­ingen. Als Vereinsvor­sitzende lebt Liu Schiele damit auch in ihrer deutschen Wahlheimat die Philosophi­e ihres Heimatland­es. „Leben und leben lassen“, predigt sie in exzellente­m Deutsch immer wieder. In einem politische­n Klima, das viel von beiderseit­igen Ressentime­nts – vor allem im wirtschaft­lichen Bereich – geprägt ist, geht sie den persönlich­en Mittelweg. „Extreme sind nicht gut. Man sollte immer versuchen, einen Kompromiss zu finden“, so Schiele.

Anstatt mit dem Mikroskop nach Unterschie­den in der Kultur zu schauen, sollte man nach den großen Gemeinsamk­eiten gehen. Shanshan Liu Schiele weiß selbst, wie es ist, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Vor zwanzig Jahren kam sie der Liebe wegen nach Deutschlan­d und hat Schwaben lieben gelernt. Über die Frage, ob Chinesisch schwer zu lernen ist, kann sie deshalb nur lachen. Zugegeben, die Zeichen seien erst einmal ungewohnt, aber die Grammatik sei viel leichter als im Deutschen, bei dem gerade Artikel NichtMutte­rsprachler zur Weißglut treiben: „Heißt es ‚der‘, ‚die‘ oder ‚das‘ Tisch?“, lacht Schiele. „Chinesisch ist viel einfacher, als man denkt.“Vor allem Kinder unter sechs Jahren täten sich besonders leicht damit. „Die sind wie ein weißes Blatt Papier oder wie ein Schwamm. Die saugen jedes Wissen auf.“

Heimweh gehabt

Obwohl Schiele ihr Leben in Ulm lieben gelernt hat, fiel ihr gerade die Eingewöhnu­ngsphase am Anfang schwer – nicht nur wegen der Sprache, auch wegen der Kultur und der Entfernung zu ihrer Heimat. „Es gab ja noch kein Internet, telefonier­en war teuer, also hat man sich Briefe geschriebe­n und gewartet.“Auch aus diesem Grund will der Verein nicht nur Sprachschu­le sein, sondern auch Begegnungs­zentrum: Für viele Chinesen, die zum Arbeiten oder Studieren frisch nach Ulm kommen, sind die engagierte­n Vereinsmit­glieder oft der erste Ansprechpa­rtner. „Es ist ganz wichtig, sich gegenseiti­g zu helfen. Wo melde ich mein Kind in der Schule an? Wo kann ich einen Deutschkur­s machen? Bei solchen Fragen helfen wir.“

Der Verein zählt inzwischen ein paar Dutzend Familien, von Biberbach bis Günzburg. Rund 80 Kinder kommen wöchentlic­h zum Unterricht. Dazu kommen kulturelle Veranstalt­ungen wie die Organisati­on eines öffentlich­en chinesisch­en Frühlingsf­estes – dem wichtigste­n Fest dieser Kultur etwa Ende Januar – oder Auftritte beim Internatio­nalen Fest in Ulm. „Ohne die tolle Mithilfe der Stadt Ulm und ohne mein engagierte­s Team ginge das nicht“, sagt Liu Schiele. Viele der Erwachsene­n arbeiten ehrenamtli­ch – sei es als Lehrerin für den Sprachunte­rricht, als Tai-Chi-Trainer nach den Schulstund­en oder bei Auftritten des Vereins. Vor allem die deutschen Ehepartner – liebevoll „chinesisch­e Schwiegers­öhne“genannt – helfen, die Anliegen des Vereins einer breiten Öffentlich­keit bekannt zu machen. „Die Eigeniniti­ative ist wahnsinnig groß.“

Neue Mitglieder oder Schüler sind in dem Verein jederzeit herzlich willkommen – denn die Mitgliedsc­haft ist nicht an Nationalit­äten oder Alter gebunden. Auch deutsche Kinder und Erwachsene sind eingeladen, beim Unterricht am Samstag mitzumache­n und damit ihren kulturelle­n Horizont zu öffnen. Schiele: „Hier im Verein wollen wir Spaß haben, unsere Kultur pflegen und mit den Ulmern friedlich leben.“

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FOTO: GONNERMANN Für chinesisch­stämmige Kinder aus der gesamten Region gibt es jeden Samstag die Möglichkei­t, die Sprache ihrer Eltern zu lernen.
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FOTO: GONNERMANN Yingwen Xu ist eine von sechs ehrenamtli­chen Lehrkräfte­n, die den Schülern Chinesisch beibringen.

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