Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Erdogan will die Istanbul-Wahl noch herumreißen
Der türkische Präsident schaltet sich immer stärker in den Wahlkampf ein – Sieg der Opposition scheint trotzdem wahrscheinlich
ISTANBUL - Eigentlich wollte sich Recep Tayyip Erdogan aus dem Wahlkampf vor der Wiederholung der Istanbuler Bürgermeisterwahl an diesem Sonntag heraushalten. Der Plan sah vor, dass der türkische Präsident das Feld dem Kandidaten seiner Regierungspartei AKP, Binali Yildirim, überlassen sollte. Doch angesichts von Yildirims schlechten Umfragewerten und der Beliebtheit des Oppositionsbewerbers Ekrem Imamoglu stürzt sich Erdogan jetzt doch ins Wahlkampfgetümmel. Er attackiert Imamoglu in gewohnt harscher Manier – ob dies die erneute Niederlage der AKP am Bosporus verhindern kann, ist fraglich.
Umfragen sagen Imamoglu einen Sieg mit bis zu neun Prozentpunkten Vorsprung voraus. Das wäre eine herbe Niederlage für den Präsidenten in seiner Heimatstadt. Seine AKP hatte nach Imamoglus knappem Erfolg bei der regulären Wahl die Wiederholung durchgesetzt, um Yildirim doch noch ins Bürgermeisteramt zu bekommen. Dieses Vorhaben könnte jetzt grandios scheitern.
Der angesehene Demoskop Bekir Agirdir vom Meinungsforschungsinstitut Konda glaubt, den Grund dafür zu kennen. Die Entscheidung zur Wiederholung der Wahl habe das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen verletzt, sagte Agirdir dem Journalisten Rusen Cakir im Internet-Fernsehkanal Medyascope. „Das war der Moment, in dem die AKP verlor.“Konda sieht Imamoglu bei 54 Prozent und Yildirim bei 45. Bei einer Begegnung mit ausländischen Journalisten sprach Erdogan am Donnerstag von manipulierten Umfragen.
Doch selbst die von der AKP selbst in Auftrag gegebenen Studien prophezeien laut Medienberichten einen Sieg der Opposition. Deshalb ändert Erdogan jetzt seine Strategie. Plötzlich hält er in Istanbul eine Wahlkampfrede nach der anderen. Er reißt den Wahlkampf an sich.
Erdogan geht bei seinen Auftritten in die Vollen. Er attackierte Imamoglu in den vergangenen Tagen als angeblichen Unterstützer der Putschisten von 2016 – Beweise dafür legte er nicht vor. Auch verglich er den Oppositionskandidaten mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, der den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Morsi vor sechs Jahren abgesetzt hatte.
Sogar mit der Justiz droht Erdogan dem Oppositionsbewerber Imamoglu. Dieser soll während eines Besuches in der Schwarzmeer-Region einen Provinzgouverneur als „Köter“beschimpft haben, was Imamoglu bestreitet. Erdogan sagte dazu, wer einen Gouverneur beleidige, dürfe kein hohes Amt bekleiden. Ein Gerichtsurteil könne Imamoglu stoppen, sagte Erdogan in einer Rede.
Erdogans Rhetorik missfällt vielen AKP-Vertreter räumen laut Medienberichten ein, dass Erdogans Strategiewechsel riskant ist. Schließlich hatte die Regierungspartei nach der Wahl im März festgestellt, dass die Rhetorik des Staatschefs vielen Wählern nicht gefiel. Sollte Imamoglu nochmals siegen, wäre Erdogan angeschlagen. Die Spannungen in der AKP dürften zunehmen, die Regierung wäre geschwächt. Dabei hatte sich die Partei von den Kommunalwahlen einen Wählerauftrag für ihre Politik in der Zeit bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2023 erhofft.
Denn die Regierung hat große Sorgen, unter anderem betrifft das die schlechte Wirtschaftslage. Experten rechnen damit, dass die türkische Volkswirtschaft im laufenden Jahr weiter schrumpfen wird. Ein Hilfspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF) könnte Hilfe bringen. Erdogan lehnt dies bisher ab.