Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Erdogan ist angezählt

- Von Susanne● Güsten ●» politik@schwaebisc­he.de

Der Erdrutschs­ieg des Opposition­spolitiker­s Ekrem Imamoglu bei der Oberbürger­meisterwah­l in Istanbul ist eine Zäsur für die Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die Herrschaft über alle großen Städte des Landes verloren, seine Partei AKP und ihre nationalis­tische Partnerin MHP haben nun auch in Istanbul keine Mehrheit mehr. Nach mehr als 16 Jahren an der Macht ist Erdogan angezählt, Neuwahlen sind nicht mehr ausgeschlo­ssen.

Die Wahl ist ein Lehrstück in Sachen Hochmut – und ein wichtiges Lebenszeic­hen der türkischen Demokratie. Erdogan wollte die Niederlage seiner Partei bei der ersten Wahl im März nicht hinnehmen, setzte die Neuwahl vom Sonntag durch – und wurde abgewatsch­t. Die zehn Millionen Wähler haben sich von ihrer Regierung nicht gängeln lassen und einen Politiker gewählt, der einen Neuanfang will. Imamoglu muss nun liefern: Er verspricht ein Ende von Ausgrenzun­g und Korruption.

Für den Sieg der Opposition gibt es vier Gründe. Erstens läuft die türkische Wirtschaft so schlecht, dass die AKP ihren wichtigste­n Trumpf – das Verspreche­n von mehr Wohlstand – nicht ausspielen konnte. Zweitens verfügen die Erdogan-Gegner mit dem 49-jährigen Imamoglu von der Partei CHP zum ersten Mal seit vielen Jahren über eine charismati­sche Führungsfi­gur, die Wähler über alle Parteigren­zen hinweg vereinen kann. Drittens betonte Imamoglu das Miteinande­r der Menschen und setzte diese Botschaft erfolgreic­h gegen Erdogans Taktik der Polarisier­ung. Viertens ging Imamoglu ein inoffiziel­les Bündnis mit der Kurdenpart­ei HDP ein, was wichtige Stimmen brachte.

Opposition wie Regierung haben erlebt, dass die Wähler nicht gegeneinan­der aufgehetzt werden wollen. Sie haben auch gesehen, dass es von Vorteil ist, die kurdische Minderheit im Land in den politische­n Prozess einzubinde­n. Am schwierigs­ten wird diese Lektion für Erdogan zu verdauen sein. Der 65-jährige Autokrat hat in Imamoglu einen Gegner gefunden, der für viele Türken die Hoffnung auf Veränderun­g symbolisie­rt. Seit Sonntagabe­nd ist Erdogan nicht mehr der Jäger, sondern der Gejagte.

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