Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Erdogan ist angezählt
Der Erdrutschsieg des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu bei der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul ist eine Zäsur für die Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die Herrschaft über alle großen Städte des Landes verloren, seine Partei AKP und ihre nationalistische Partnerin MHP haben nun auch in Istanbul keine Mehrheit mehr. Nach mehr als 16 Jahren an der Macht ist Erdogan angezählt, Neuwahlen sind nicht mehr ausgeschlossen.
Die Wahl ist ein Lehrstück in Sachen Hochmut – und ein wichtiges Lebenszeichen der türkischen Demokratie. Erdogan wollte die Niederlage seiner Partei bei der ersten Wahl im März nicht hinnehmen, setzte die Neuwahl vom Sonntag durch – und wurde abgewatscht. Die zehn Millionen Wähler haben sich von ihrer Regierung nicht gängeln lassen und einen Politiker gewählt, der einen Neuanfang will. Imamoglu muss nun liefern: Er verspricht ein Ende von Ausgrenzung und Korruption.
Für den Sieg der Opposition gibt es vier Gründe. Erstens läuft die türkische Wirtschaft so schlecht, dass die AKP ihren wichtigsten Trumpf – das Versprechen von mehr Wohlstand – nicht ausspielen konnte. Zweitens verfügen die Erdogan-Gegner mit dem 49-jährigen Imamoglu von der Partei CHP zum ersten Mal seit vielen Jahren über eine charismatische Führungsfigur, die Wähler über alle Parteigrenzen hinweg vereinen kann. Drittens betonte Imamoglu das Miteinander der Menschen und setzte diese Botschaft erfolgreich gegen Erdogans Taktik der Polarisierung. Viertens ging Imamoglu ein inoffizielles Bündnis mit der Kurdenpartei HDP ein, was wichtige Stimmen brachte.
Opposition wie Regierung haben erlebt, dass die Wähler nicht gegeneinander aufgehetzt werden wollen. Sie haben auch gesehen, dass es von Vorteil ist, die kurdische Minderheit im Land in den politischen Prozess einzubinden. Am schwierigsten wird diese Lektion für Erdogan zu verdauen sein. Der 65-jährige Autokrat hat in Imamoglu einen Gegner gefunden, der für viele Türken die Hoffnung auf Veränderung symbolisiert. Seit Sonntagabend ist Erdogan nicht mehr der Jäger, sondern der Gejagte.