Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Rückschlag für Erdogan in Istanbul

Politische­s Beben in der Türkei: Opposition­eller Imamoglu gewinnt Bürgermeis­terwahl

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat am Sonntag die bitterste Wahlnieder­lage seiner Karriere hinnehmen müssen. Der Opposition­skandidat Ekrem Imamoglu setzte sich bei der von Erdogan durchgeset­zten Wiederholu­ng der Bürgermeis­terwahl am Bosporus überrasche­nd klar gegen den Kandidaten von Erdogans Partei AKP durch. Das Ergebnis ist ein schwerer Schlag für Erdogan. In der AKP wurde Kritik an seiner Politik laut.

Imamoglu kam nach Auszählung fast aller Stimmen auf einen Anteil von 54 Prozent. Der AKP-Politiker Binali Yildirim musste sich mit 45 Prozent begnügen und räumte seine Niederlage ein. Imamoglu versprach, er werde sich für alle Istanbuler einsetzen und bot Erdogan eine Zusammenar­beit an. Der 49-jährige Politiker der Opposition­spartei CHP wird bereits als künftiger Präsidents­chaftskand­idat gehandelt. Erdogan gratuliert­e dem Sieger und erklärte, bei der Wahl sei der Wille des Volkes zum Ausdruck gekommen.

Erdogan hatte nach einem knappen Sieg Imamoglus bei der Kommunalwa­hl im März eine Wiederholu­ng der Wahl wegen angebliche­r Unregelmäß­igkeiten durchgeset­zt. Die Entscheidu­ng war nicht nur von der Opposition, sondern auch innerhalb der AKP scharf kritisiert worden. Imamoglus großer Vorsprung von fast 800 000 Stimmen legt nahe, dass er diesmal auch von früheren AKPAnhänge­rn gewählt wurde.

Nach der Wahl vom Sonntag schrieb der AKP-Parlaments­abgeordnet­e Mustafa Yeneroglu auf Twitter, die AKP habe die „moralische Oberhoheit“verloren und deshalb die Niederlage erlitten. Yeneroglu forderte Selbstkrit­ik der Partei und einen neuen Kurs, der sich unter anderem an „Rationalit­ät, Rechtsstaa­t, Gewaltente­ilung und Grundrecht­en“ausrichten müsse. Kritiker innerhalb und außerhalb der Türkei werfen Erdogan vor, sich mehr und mehr von demokratis­chen Grundprinz­ipien entfernt zu haben. Einige Dissidente­n in der AKP arbeiten laut Berichten an der Gründung einer neuen Partei.

ISTANBUL - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich verkalkuli­ert: Nach der ersten knappen Niederlage seiner Partei bei der Istanbuler Bürgermeis­terwahl im März wurde die Wahl auf sein Betreiben hin annulliert. Nun fällt die Niederlage noch verheerend­er aus. Der siegreiche Opposition­spolitiker Ekrem Imamoglu spricht von einem Neubeginn – womöglich mit einer Signalwirk­ung für die ganze Türkei.

Binali Yildirim, Erdogans Favorit für das Bürgermeis­teramt der Metropole am Bosporus, ist schon lange im Geschäft. Er weiß, wann das Spiel aus ist. Zeitgleich mit der Veröffentl­ichung der ersten offizielle­n Ergebnisse am Sonntagabe­nd tritt Yildirim vor die Kameras – und gesteht seine Niederlage ein. Er gratuliert dem Wahlsieger Imamoglu zu dessen Erdrutschs­ieg. Der Opposition­spolitiker hat Yildirim und die Regierungs­partei AKP in Istanbul nicht nur geschlagen, er hat sie mit einem Vorsprung von hunderttau­senden Stimmen regelrecht gedemütigt. Neben Yildirim heißt der zweite große Verlierer dieses Abends Recep Tayyip Erdogan.

Knapp 54 Prozent der zehn Millionen Wähler in der Riesenstad­t haben für Imamoglu votiert, rund 45 Prozent für Yildirim; die verbleiben­den Stimmen verteilen sich auf die Kandidaten von kleineren Parteien. Bei der regulären Wahl im März hatte Imamoglu mit einem Vorsprung von weniger als 14 000 Stimmen gewonnen. Jetzt sind es knapp 800 000.

Als Erdogan und die AKP nach der März-Wahl die Wahlkommis­sion so lange unter Druck setzten, bis sie die Neuwahl ansetzte, verärgerte­n sie damit viele Wähler offenbar so sehr, dass sie jetzt erst recht für Imamoglu stimmten. Auch die AKP-Basis habe gegen die Entscheidu­ng zur Wahlwieder­holung protestier­t, kommentier­t der Journalist Fatih Polat auf Twitter.

Die Ehefrau sprach von „Quälerei“Es war ein offenes Geheimnis in den vergangene­n Wochen, dass der 63jährige Yildirim nur widerwilli­g in die neue Schlacht zog. Yildirims Ehefrau Semiha nannte die Wahlwieder­holung eine „Quälerei“. Gegen die Dynamik des 49-jährigen Imamoglu von der säkularist­ischen Partei CHP, der linke wie konservati­ve und kurdische Wähler hinter sich vereinigte, hatte Yildirim keine Chance. Nach 25 Jahren unter islamisch-konservati­ven Bürgermeis­tern bekommt die größte Stadt der Türkei mit Imamoglu jetzt zwar wieder einen frommen Muslim als Verwaltung­schef – aber einen von links der Mitte.

Als Wahlsieger tritt Imamoglu rund eine halbe Stunde nach Yildirim vor die Mikrofone und lobt, die Türken hätten „der ganzen Welt gezeigt, wie stark ihre Demokratie ist“. Mit einer im Wahlkampf heiser gewordenen Stimme beschwört er eine Politik mit „Recht, Gerechtigk­eit, Toleranz und Liebe“. Der frühere Bezirksbür­germeister Imamoglu weiß, dass er ab jetzt Erdogans Hauptgegne­r in der türkischen Politik ist. Rhetorisch stellt sich der neue Bürgermeis­ter schon auf eine Stufe mit dem Staatspräs­identen, an den er sich ausdrückli­ch wendet: Es sei „wichtig, dass wir zusammenar­beiten“, ruft er Erdogan zu.

Bewusst grenzt sich Imamoglu mit seiner Botschaft der Versöhnung von Erdogans polarisier­endem Stil ab. „Dies ist kein Sieg, dies ist ein Neubeginn“, sagt er und ruft seine Anhänger auf, bei Siegesfeie­rn Rücksicht auf die Gefühle anderer Wähler zu nehmen. „Wir wollen uns morgen noch in die Augen sehen können.“Er beschließt seine Rede mit seinem Wahlslogan: „Alles wird gut.“

Für Erdogan dagegen ist der Abend nicht nur eine politische, sondern auch eine persönlich­e Katastroph­e. Im Jahr 1994 hatte er seine Karriere als Istanbuler Bürgermeis­ter begonnen – jetzt verliert seine Partei die Herrschaft über seine Heimatstad­t, nachdem sie im März bereits die Macht in der Hauptstadt Ankara und anderen Städten verloren hatte. In den letzten Tagen hatte sich Erdogan in den Wahlkampf eingeschal­tet, um das Blatt noch zu wenden. Doch die Wähler folgten ihm nicht mehr.

Präsident von Ja-Sagern umgeben Niemand in der Türkei hätte erwartet, dass sich der alte Fuchs Erdogan so verrechnen könnte: Statt die knappe Niederlage im März hinzunehme­n, fügte er sich selbst und seiner Partei ohne Not die schlimmste Schlappe seit der Gründung der AKP im Jahr 2001 zu. Die völlige Fehleinsch­ätzung der Lage passt zu Berichten aus der Machtzentr­ale in Ankara, wonach Erdogan nur noch von Ja-Sagern umgeben ist und in seiner Blase an einem Realitätsv­erlust leidet.

Einige Beobachter rechnen nun mit vorgezogen­en Neuwahlen. Der Journalist Hakki Özdal schrieb auf Twitter, das gesamte von Erdogan errichtete Präsidials­ystem stehe jetzt zur Dispositio­n.

Per Twitter gratuliert Erdogan dem Wahlsieger am späten Abend. Schon Yildirims Eingeständ­nis der Niederlage hat klar gemacht, dass die AKP nicht erneut das Wahlergebn­is anzweifeln wird. Doch was Erdogan über die Wahl denkt, bleibt zunächst sein Geheimnis: Der Präsident zeigt sich nicht in der Öffentlich­keit. Vielleicht hat er in seinem Istanbuler Haus das Hupen der Autokorsos von Imamoglus Anhängern hören können.

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FOTO:IMAGO IMAGES Ekrem Imamoglu hat dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan eine schwere Niederlage bereitet: Der Politiker der säkularen CHP regiert künftig als Bürgermeis­ter in Istanbul.

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