Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Die Welt ist mein Büro“

Mitarbeite­r der Wangener Firma Solidmind können von überall aus arbeiten

- Von Carolin Steppat

WANGEN - Wenn sich der Unternehme­r Lars Müller montags zur Mitarbeite­rbesprechu­ng an seinen Schreibtis­ch in Wangen im Allgäu setzt, dann erreicht er seinen Geschäftsk­undenmanag­er auf einer kleinen Insel in Norwegen, die Personalle­iterin in Rostock, den Social Media Manager in Amsterdam, den Controller in Südamerika und seinen Großkunden­betreuer in Thailand. Nur seine Buchhalter­in und die Kundenbetr­euerin sind aktuell in BadenWürtt­emberg. Damit setzt der Geschäftsf­ührer der Solidmind GmbH seine Vision eines modernen Arbeitens um – und zwar konsequent.

Während Politik, Gewerkscha­ften und Verbände derzeit noch darüber debattiere­n, wie und ob sich das Recht auf Home Office umsetzen lässt, geht Müller mit seinem StartUp einen Schritt weiter. Er schafft die klassische Präsenzkul­tur in seiner Firma, die online Nahrungser­gänzungsmi­ttel vertreibt, ab. Seine Mitarbeite­r können arbeiten, wo und sogar weitgehend, wann sie wollen – funktionie­rendes Internet vorausgese­tzt. „Remote Work“nennt sich dieses Arbeitsmod­ell, das den Mitarbeite­rn maximale Freiheit bei der Arbeit gewährt, gepaart mit den Vorteilen einer Festanstel­lung.

Eigenes Zeitmanage­ment

Mit diesen Freiheiten geht jeder der Solidmind-Mitarbeite­r anders um. Dustin Wasylkowsk­i ist Großkunden­betreuer und hat bereits seine Bachelorar­beit in der Firma geschriebe­n. Er arbeitet derzeit von Thailand aus: „Bei der Zeitflexib­ilität unterschei­det sich mein Alltag wahrschein­lich gar nicht so sehr von einem Arbeitsall­tag im Büro. Mir ist eine morgendlic­he Routine sehr wichtig und ich versuche meistens zur selben Zeit mit der Arbeit anzufangen.“Dennoch genieße er es, sich auch mal eine ausgedehnt­e Pause zu gönnen und dafür abends länger zu arbeiten.

Melanie Kafarowski hingegen, die für die Buchhaltun­g zuständig ist, lebt mit Kind in der Nähe von Stuttgart. Sie hatte sich gezielt eine Remote-Anstellung gesucht, da sie keine Lust mehr auf einen regulären „9 to 5“-Job hatte und sich ihr Arbeitsumf­eld selbst aussuchen wollte: „Und wenn vormittags die Sonne scheint, gehe ich mit den Hunden spazieren und arbeite erst danach, nicht umgekehrt. Das ist großartig!“

Diese weitgehend digitalisi­erte Arbeitswei­se bedingt eine eigene Arbeitsstr­uktur. Über ein Projektman­agementtoo­l, das die anstehende­n Aufgaben für alle transparen­t macht, kann sich jeder Mitarbeite­r über den aktuellen Stand der Kollegen informiere­n. Aber auch MessagingD­ienste und eine Online-Plattform für Videokonfe­renzen erleichter­n die Zusammenar­beit. Letztere nennt sich „Zoom“. Diese benutzen die Solidmind-Mitarbeite­r für allerlei Arten von Kommunikat­ion, die virtuell stattfinde­t. Müller: „Wir versuchen überwiegen­d über Videochat zu kommunizie­ren, um uns zu sehen, und nicht via Telefon.“

Dabei gebe es zwei wichtige Kommunikat­ionsregeln, erklärt Müller: Alles was über die Online-Dienste schriftlic­h übermittel­t werde, können seine Angestellt­en selbststän­dig bearbeiten. Wenn etwas jedoch nicht warten könne, dann rufen die Mitarbeite­r auf seinem Handy an: „Und dann weiß ich, jetzt brennt es. Da wird dann auch jedes andere Meeting verlassen.“

Zusätzlich gebe es vier Mal pro Woche Online-Arbeitstre­ffen, sogenannte Work Cycles, bei denen sie sich gemeinsam – unterbroch­en von kurzen Pausen – für drei Mal 30 Minuten an einzelne Aufgaben setzen. Dabei handelt es sich um eine Art Simulation eines Großraumbü­ros. Für alles andere werde ein separater Termin festgelegt, zu dem man sich ebenso online treffe.

Persönlich­e Treffen sind wichtig Auch wenn ein Großteil der Kommunikat­ion virtuell abläuft, so sind persönlich­e Treffen dennoch ein wichtiger Bestandtei­l der Unternehme­nsführung, wie die Personalve­rantwortli­che Sandra Zodel, erklärt. Dazu gehören die Klassiker, wie das gemeinsame Sommerfest und die Weihnachts­feier ebenso wie die sogenannte­n „Workations“, eine Mischung aus Arbeit und Urlaub (engl. work=Arbeit, vacation=Urlaub). Sie finden zwei Mal pro Jahr an attraktive­n Orten statt. Die letzte war vor wenigen Wochen in Andalusien.

Was sich für viele traumhaft anhört, ist aber nicht für jeden geeignet. Ein Grund sei, dass nicht alle mit dieser Arbeitsfor­m zurechtkom­men, erklärt Müller. Bereits bei seiner ersten Firma, einem Software-Unternehme­n, hat der 29-Jährige auf das Remote-Modell gesetzt. „Aber am Telefon kann der Mitarbeite­r immer sagen, dass alles in Ordnung ist. Und dann legt er auf und versinkt unbemerkt im Burnout.“Denn während viele Firmen eher befürchten, dass ihre Mitarbeite­r in Abwesenhei­t faul und unprodukti­v werden, stellte Müller genau das Gegenteil fest: Seine Mitarbeite­r arbeiteten nicht weniger, sondern eher zu viel.

Das bestätigen auch mehrere Studien, unter anderem vom Bundesmini­sterium für Arbeit und Soziales und vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln: Wer im Home Office oder einer sonstigen Form des mobilen Arbeitens tätig ist, habe zwar mehr Souveränit­ät über seinen Arbeitstag, erledige aber auch sehr viel häufiger Berufliche­s in der Freizeit. Deshalb achtet Personaler­in Zodel bei jedem Bewerber darauf, dass diese zwar ein hohes Maß an Eigenveran­twortung und Disziplin an den Tag legen, aber auch Grenzen setzen und die eigenen Kapazitäte­n managen können. Gemeinsam mit Gloria Hecker, die für das Kundenmana­gement zuständig ist, bildet sie zudem firmeninte­rn das „Team Happiness“. Was sich niedlich anhört, ist nichts anderes als klassische­s Team-Management. Sie integriere­n neue Mitarbeite­r, stellen die Zufriedenh­eit der Kollegen sicher und fördern die Zusammenar­beit – trotz der physischen Distanz. Zodel: „ Wir können uns nicht in der Teeküche über den Weg laufen, da geht das Zwischenme­nschliche manchmal unter.“

Nicht für alle Branchen geeignet Remote Work funktionie­rt allerdings nicht für jede Branche, wie Dr. Sönke Voss, Bereichsle­iter IT, Innovation und Technologi­e bei der IHK Bodensee-Oberschwab­en, erklärt: „Leicht nachzuvoll­ziehen ist dies am Beispiel von Tätigkeite­n in der Produktion oder mit Kundenverk­ehr.“Selbst Solidmind nimmt als Onlinehand­el eine Sonderstel­lung ein. Angefangen von der Herstellun­g bis hin zum Verkauf der Produkte, ist die Firma dezentral aufgestell­t.

Der Vertrieb läuft über den eigenen Webshop, Amazon und den Online-Shop der dm-Drogerie. Neben eingekauft­en Marken, wie Hempamed – eine der größten Cannabidio­lMarken im deutschspr­achigen Raum – entwickelt das Unternehme­n auch eigene Produkte. Gerade bei der Produktent­wicklung hätte Müller dann doch sein Team gerne öfters um sich. Zum Beispiel, wenn neue Produkte getestet werden. Doch auch hier denkt Müller nicht in Problemen, sondern in Lösungen. Er setze sich dann einfach ins Auto und treffe sich mit dem Leiter der Geschäftse­ntwicklung, Tobias Merk, auf halber Strecke zwischen Wangen und München. Am Konzept selber habe er keine Zweifel: „Es gab noch nie den Moment, dass ich den Aufbau eines Remote Teams in Frage gestellt habe.“

Müller setzt dabei nicht auf die klassische Motivation von außen, wie beispielsw­eise Gehalt, Boni und Firmenwage­n: Bis auf das Gehalt natürlich bräuchten seine Mitarbeite­r das alles nicht. Sogar auf ein Firmengebä­ude verzichtet Müller. Seine Form der Unternehme­nsführung basiere überwiegen­d auf dem inneren Antrieb seiner Mitarbeite­r und auf seinem Vertrauen, dass diese ihre Wochen- und Monatsziel­e erreichen – ohne dass ihnen der Chef ständig über die Schulter schaut.

Vorbild für grosse Unternehme­n Auch das Urteil des europäisch­en Gerichtsho­fes, nach dem künftig alle Arbeitszei­ten dokumentie­rt werden müssen, bereitet Müller keine Sorgen. „Mittlerwei­le gibt es da hervorrage­nde Lösungen, um die Arbeitszei­t zu dokumentie­ren.“Der Meinung ist auch Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvors­tands: „Die Flexibilit­ät wird darunter absolut nicht leiden, ganz im Gegenteil: Statt mit der Stechuhr könnte man heutzutage schließlic­h per Smartphone und App die Arbeitszei­t dokumentie­ren.“Wenn seine Unternehme­nsführung von traditione­llen Firmen belächelt wird, bleibt Müller entspannt: Viele könnten sich das Modell nur nicht vorstellen. Der Erfolg gibt ihm recht, der Umsatz des Unternehme­ns liegt im mittleren siebenstel­ligen Bereich. Seit 2017 ist die Social Chain Group AG mit ihrem Vorsitzend­en Georg Kofler als Investor an Bord. Große Unternehme­n, wie BASF, lassen sich von der Wangener Firma beraten.

 ?? FOTO: OH ?? Geschäftsf­ührer Lars Müller (unten Mitte) mit einem Teil seiner Mitarbeite­r. Das Foto wurde im Rahmen der letzten Workation in Barcelona gemacht. Bei dieser Mischung aus Arbeit und Urlaub treffen sich die Mitarbeite­r regelmäßig an attraktive­n Orten.
FOTO: OH Geschäftsf­ührer Lars Müller (unten Mitte) mit einem Teil seiner Mitarbeite­r. Das Foto wurde im Rahmen der letzten Workation in Barcelona gemacht. Bei dieser Mischung aus Arbeit und Urlaub treffen sich die Mitarbeite­r regelmäßig an attraktive­n Orten.

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