Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Die Welt ist mein Büro“
Mitarbeiter der Wangener Firma Solidmind können von überall aus arbeiten
WANGEN - Wenn sich der Unternehmer Lars Müller montags zur Mitarbeiterbesprechung an seinen Schreibtisch in Wangen im Allgäu setzt, dann erreicht er seinen Geschäftskundenmanager auf einer kleinen Insel in Norwegen, die Personalleiterin in Rostock, den Social Media Manager in Amsterdam, den Controller in Südamerika und seinen Großkundenbetreuer in Thailand. Nur seine Buchhalterin und die Kundenbetreuerin sind aktuell in BadenWürttemberg. Damit setzt der Geschäftsführer der Solidmind GmbH seine Vision eines modernen Arbeitens um – und zwar konsequent.
Während Politik, Gewerkschaften und Verbände derzeit noch darüber debattieren, wie und ob sich das Recht auf Home Office umsetzen lässt, geht Müller mit seinem StartUp einen Schritt weiter. Er schafft die klassische Präsenzkultur in seiner Firma, die online Nahrungsergänzungsmittel vertreibt, ab. Seine Mitarbeiter können arbeiten, wo und sogar weitgehend, wann sie wollen – funktionierendes Internet vorausgesetzt. „Remote Work“nennt sich dieses Arbeitsmodell, das den Mitarbeitern maximale Freiheit bei der Arbeit gewährt, gepaart mit den Vorteilen einer Festanstellung.
Eigenes Zeitmanagement
Mit diesen Freiheiten geht jeder der Solidmind-Mitarbeiter anders um. Dustin Wasylkowski ist Großkundenbetreuer und hat bereits seine Bachelorarbeit in der Firma geschrieben. Er arbeitet derzeit von Thailand aus: „Bei der Zeitflexibilität unterscheidet sich mein Alltag wahrscheinlich gar nicht so sehr von einem Arbeitsalltag im Büro. Mir ist eine morgendliche Routine sehr wichtig und ich versuche meistens zur selben Zeit mit der Arbeit anzufangen.“Dennoch genieße er es, sich auch mal eine ausgedehnte Pause zu gönnen und dafür abends länger zu arbeiten.
Melanie Kafarowski hingegen, die für die Buchhaltung zuständig ist, lebt mit Kind in der Nähe von Stuttgart. Sie hatte sich gezielt eine Remote-Anstellung gesucht, da sie keine Lust mehr auf einen regulären „9 to 5“-Job hatte und sich ihr Arbeitsumfeld selbst aussuchen wollte: „Und wenn vormittags die Sonne scheint, gehe ich mit den Hunden spazieren und arbeite erst danach, nicht umgekehrt. Das ist großartig!“
Diese weitgehend digitalisierte Arbeitsweise bedingt eine eigene Arbeitsstruktur. Über ein Projektmanagementtool, das die anstehenden Aufgaben für alle transparent macht, kann sich jeder Mitarbeiter über den aktuellen Stand der Kollegen informieren. Aber auch MessagingDienste und eine Online-Plattform für Videokonferenzen erleichtern die Zusammenarbeit. Letztere nennt sich „Zoom“. Diese benutzen die Solidmind-Mitarbeiter für allerlei Arten von Kommunikation, die virtuell stattfindet. Müller: „Wir versuchen überwiegend über Videochat zu kommunizieren, um uns zu sehen, und nicht via Telefon.“
Dabei gebe es zwei wichtige Kommunikationsregeln, erklärt Müller: Alles was über die Online-Dienste schriftlich übermittelt werde, können seine Angestellten selbstständig bearbeiten. Wenn etwas jedoch nicht warten könne, dann rufen die Mitarbeiter auf seinem Handy an: „Und dann weiß ich, jetzt brennt es. Da wird dann auch jedes andere Meeting verlassen.“
Zusätzlich gebe es vier Mal pro Woche Online-Arbeitstreffen, sogenannte Work Cycles, bei denen sie sich gemeinsam – unterbrochen von kurzen Pausen – für drei Mal 30 Minuten an einzelne Aufgaben setzen. Dabei handelt es sich um eine Art Simulation eines Großraumbüros. Für alles andere werde ein separater Termin festgelegt, zu dem man sich ebenso online treffe.
Persönliche Treffen sind wichtig Auch wenn ein Großteil der Kommunikation virtuell abläuft, so sind persönliche Treffen dennoch ein wichtiger Bestandteil der Unternehmensführung, wie die Personalverantwortliche Sandra Zodel, erklärt. Dazu gehören die Klassiker, wie das gemeinsame Sommerfest und die Weihnachtsfeier ebenso wie die sogenannten „Workations“, eine Mischung aus Arbeit und Urlaub (engl. work=Arbeit, vacation=Urlaub). Sie finden zwei Mal pro Jahr an attraktiven Orten statt. Die letzte war vor wenigen Wochen in Andalusien.
Was sich für viele traumhaft anhört, ist aber nicht für jeden geeignet. Ein Grund sei, dass nicht alle mit dieser Arbeitsform zurechtkommen, erklärt Müller. Bereits bei seiner ersten Firma, einem Software-Unternehmen, hat der 29-Jährige auf das Remote-Modell gesetzt. „Aber am Telefon kann der Mitarbeiter immer sagen, dass alles in Ordnung ist. Und dann legt er auf und versinkt unbemerkt im Burnout.“Denn während viele Firmen eher befürchten, dass ihre Mitarbeiter in Abwesenheit faul und unproduktiv werden, stellte Müller genau das Gegenteil fest: Seine Mitarbeiter arbeiteten nicht weniger, sondern eher zu viel.
Das bestätigen auch mehrere Studien, unter anderem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln: Wer im Home Office oder einer sonstigen Form des mobilen Arbeitens tätig ist, habe zwar mehr Souveränität über seinen Arbeitstag, erledige aber auch sehr viel häufiger Berufliches in der Freizeit. Deshalb achtet Personalerin Zodel bei jedem Bewerber darauf, dass diese zwar ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Disziplin an den Tag legen, aber auch Grenzen setzen und die eigenen Kapazitäten managen können. Gemeinsam mit Gloria Hecker, die für das Kundenmanagement zuständig ist, bildet sie zudem firmenintern das „Team Happiness“. Was sich niedlich anhört, ist nichts anderes als klassisches Team-Management. Sie integrieren neue Mitarbeiter, stellen die Zufriedenheit der Kollegen sicher und fördern die Zusammenarbeit – trotz der physischen Distanz. Zodel: „ Wir können uns nicht in der Teeküche über den Weg laufen, da geht das Zwischenmenschliche manchmal unter.“
Nicht für alle Branchen geeignet Remote Work funktioniert allerdings nicht für jede Branche, wie Dr. Sönke Voss, Bereichsleiter IT, Innovation und Technologie bei der IHK Bodensee-Oberschwaben, erklärt: „Leicht nachzuvollziehen ist dies am Beispiel von Tätigkeiten in der Produktion oder mit Kundenverkehr.“Selbst Solidmind nimmt als Onlinehandel eine Sonderstellung ein. Angefangen von der Herstellung bis hin zum Verkauf der Produkte, ist die Firma dezentral aufgestellt.
Der Vertrieb läuft über den eigenen Webshop, Amazon und den Online-Shop der dm-Drogerie. Neben eingekauften Marken, wie Hempamed – eine der größten CannabidiolMarken im deutschsprachigen Raum – entwickelt das Unternehmen auch eigene Produkte. Gerade bei der Produktentwicklung hätte Müller dann doch sein Team gerne öfters um sich. Zum Beispiel, wenn neue Produkte getestet werden. Doch auch hier denkt Müller nicht in Problemen, sondern in Lösungen. Er setze sich dann einfach ins Auto und treffe sich mit dem Leiter der Geschäftsentwicklung, Tobias Merk, auf halber Strecke zwischen Wangen und München. Am Konzept selber habe er keine Zweifel: „Es gab noch nie den Moment, dass ich den Aufbau eines Remote Teams in Frage gestellt habe.“
Müller setzt dabei nicht auf die klassische Motivation von außen, wie beispielsweise Gehalt, Boni und Firmenwagen: Bis auf das Gehalt natürlich bräuchten seine Mitarbeiter das alles nicht. Sogar auf ein Firmengebäude verzichtet Müller. Seine Form der Unternehmensführung basiere überwiegend auf dem inneren Antrieb seiner Mitarbeiter und auf seinem Vertrauen, dass diese ihre Wochen- und Monatsziele erreichen – ohne dass ihnen der Chef ständig über die Schulter schaut.
Vorbild für grosse Unternehmen Auch das Urteil des europäischen Gerichtshofes, nach dem künftig alle Arbeitszeiten dokumentiert werden müssen, bereitet Müller keine Sorgen. „Mittlerweile gibt es da hervorragende Lösungen, um die Arbeitszeit zu dokumentieren.“Der Meinung ist auch Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvorstands: „Die Flexibilität wird darunter absolut nicht leiden, ganz im Gegenteil: Statt mit der Stechuhr könnte man heutzutage schließlich per Smartphone und App die Arbeitszeit dokumentieren.“Wenn seine Unternehmensführung von traditionellen Firmen belächelt wird, bleibt Müller entspannt: Viele könnten sich das Modell nur nicht vorstellen. Der Erfolg gibt ihm recht, der Umsatz des Unternehmens liegt im mittleren siebenstelligen Bereich. Seit 2017 ist die Social Chain Group AG mit ihrem Vorsitzenden Georg Kofler als Investor an Bord. Große Unternehmen, wie BASF, lassen sich von der Wangener Firma beraten.