Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Jeder für sich allein

Roland Schimmelpf­ennig, der meistgespi­elte deutsche Dramatiker, inszeniert seine „100 Songs“in Stuttgart

- Von Jürgen Berger

STUTTGART - Die Stuttgarte­r erinnern sich gerne an ihn, schließlic­h wurde 2001 am Staatsthea­ter ein Stück uraufgefüh­rt, mit dem der inzwischen meist gespielte deutschspr­achige Dramatiker durchstart­ete. In „Die arabische Nacht“führte Roland Schimmelpf­ennig damals die Bewohner eines Wohnblocks in der Hitze einer Sommernach­t zusammen. Nach achtzehn Jahren ist er nun mit seinem neuesten Stück „100 Songs“zurückgeke­hrt und bringt uns eine Schar von Menschen näher, denen es weitaus schlechter geht als denen damals.

Die Wohnblock-Menschen in der exotisch warmen Nacht mussten damals plötzlich ohne Wasser auskommen, kamen sich aber genau deswegen näher. Heute steigen die Menschen in einen Zug, kommen aber nie am Ziel an, sondern werden Opfer eines blutigen Bombenansc­hlags. Sie sind jetzt etwas älter und auch einsamer, obwohl sie in der deutschen Erstauffüh­rung am Stuttgarte­r Staatsscha­uspiel so optimistis­ch wirken, als würden noch hundert Liebesaben­teuer vor ihnen liegen.

Inszeniert hat der Autor, der auch für die Bühne zuständig ist. Schimmelpf­ennig liefert ein Rundum-Sorglos-Paket – und er macht das sorgfältig perfekt, obwohl er als Bühnenbild­ner so viel Arbeit nicht hatte: sehr viele Stühle und noch mehr Kleidungss­tücke, mehr braucht es nicht für das permanente Figur-Wechsledic­h-Spiel der deutschen Erstauffüh­rung von „100 Songs“. Wir wissen nicht, wie das bei der Uraufführu­ng in Schweden war. In Stuttgart sind da ansonsten nur noch die Lichtregie, immer wieder wallender Bühnennebe­l und vor allem: die Stuttgarte­r Ensemblemi­tglieder, die Schimmelpf­ennig schnörkell­os und mit einem genauen Blick für die tragikomis­chen Färbungen des Lebens inszeniert.

So kennt man ihn. Schimmelpf­ennig ist einem Theater der emotionsge­ladenen, märchenhaf­t überzeichn­eten Figuren verpflicht­et. Im aktuellen Fall sind es sehr viele. Sie wissen in der Regel nichts voneinande­r, wenn sie morgens um 8:52 in einen Zug einsteigen, in dem kurz nach 8:55 wohl eine Bombe explodiert.

Unter ihnen eine müde Stripperin (Alexandra von Schwerin), die ausgerechn­et neben dem jungen Mann (Robert Rožic ) einen Sitzplatz findet, der am Abend zuvor in der Bar war, in der sie sich ganz langsam ihrer Kleidungst­ücke entledigt hatte. Oder die Landvermes­serin (Anne-Marie Lux), die überaus enthusiast­isch wirkt, obwohl die Vermessung der Welt eigentlich keinen Sinn mehr macht. Eine junge Studentin (Anne-Marie Lux) erklärt ihrem Freund (Robert Rožic ), wie das mit der romantisch­en Komödie funktionie­rt, während eine andere Frau (Katharina Hauter) ihren Geliebten (Sebastian Röhrle) trifft, obwohl er der beste Freund des Gatten ist. Und draußen auf dem Bahnsteig? Da verpasst eine Frau (Alexandra von Schwerin) den Zug, wird aber von einem Polizisten (Reinhard Mahlberg) gesehen, der nun ein ganz großes Thema hat: „Vielleicht wäre das die Frau meines Lebens gewesen, denkt er. Vielleicht wäre diese Frau das Ende der Einsamkeit gewesen.“

Dumm nur, dass das Leben des Polizisten so schnell enden wird wie das all der Menschen, die an diesem Morgen aus ihrem Leben erzählen, als seien sie Meister der Verknappun­g und Pointierun­g all der Zufälle, die so etwas wie eine Biografie ergeben. Das Genre der mit knappen Schnitten erzählten Lebensdram­en und -komödien beherrscht Schimmelpf­ennig wie kein zweiter.

Das Hoffen auf Liebe

Jetzt, da er in Stuttgart sein eigener Regisseur ist, jongliert er mit Erzählfrag­menten und dem schnellen Wechsel von biografisc­hen Schnipseln. Anne-Marie Lux etwa wechselt in Sekundensc­hnelle von der Landvermes­serin zur romantisch­en Studentin, um eine Sekunde später ein schwarz gekleidete­s und ebenso geschminkt­es Mädchen zu sein, das vorzugswei­se Punk, Heavy Metal und Grunge hört. Plötzlich singt einer aber „We’re on the road to nowhere“und erinnert daran, dass das mit der Straße ins Nirgendwo nur eines der Lieder ist, die Roland Schimmelpf­ennig für „100 Songs“zusammenst­ellte.

„Bette Davis Eyes“gehört auch dazu. Kim Carnes Welthit ist das Lieblingsl­ied der Kellnerin Sally, der im Moment der Katastroph­e eine Tasse aus der Hand rutscht und am Boden zerschellt – immer und immer wieder. Das mit Sally und der Tasse nutzt Schimmelpf­ennig, um darauf aufmerksam zu machen, dass das Leben auch eine Anhäufung von Wiederholu­ngen ist, die am Ende dann doch einen großen Roman ergeben können.

Im Fall von Sally könnte die Story so lauten: Sie gehört genau so wenig zu den Opfern des Bombenansc­hlags wie der junge Mann, dessen Blick sie so elektrisie­rte und der vielleicht der eigentlich­e Auslöser des Tassenstur­zes war. Schließlic­h ist das mit den „100 Songs“nicht nur ein hohes Lied auf die Einsamkeit. Es ist auch eine Beschwörun­g, selbst in größter Verlassenh­eit immer weiter zu machen und zu hoffen, die große Liebe werde sich doch noch einstellen.

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FOTO: BJÖRN KLEIN Stühle, Bühnennebe­l, Kleidungss­tücke und im Vordergrun­d Sebastian Röhrle als junger Mann in Roland Schimmelpf­ennigs Figuren-Wechsle-dich-Spiel.

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