Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Vom Absturz des reichen Mannes
Haller Freilichtspiele kehren mit Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“zu ihren Wurzeln zurück
SCHWÄBISCH HALL - „Ganz fremd und doch bekannt zugleich.“So beschreibt Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“die seltsame Stimme, die nach ihm ruft. Dieses Zitat trifft ganz gut, was Christian Doll, Intendant der Schwäbisch Haller Freilichtspiele, am Samstagabend auf die Große Treppe vor Sankt Michael zwischen die Wrackteile eines Flugzeugs gesetzt hat.
Mit diesem Klassiker „Vom Sterben des reichen Mannes“, von den großen Fragen des Seins, kehren die Freilichtspiele quasi zu ihren Wurzeln zurück. Am 16. August 1925 war das Mysterienspiel das erste Stück, das die Haller Theatermacher auf der Großen Treppe vor Sankt Michael inszeniert hatten. „Es soll vor einer Kirche spielen, unter freiem Himmel“, soll des Autors Vorgabe gewesen sein. Passt bestens, zunächst hießen die Freilichtspiele sogar „Jedermann-Festspiele“.
Es ist nicht immer einfach, einem solchen Klassiker neue Aspekte, neue Blickwinkel abzuringen. Doll, im dritten Jahr in Hall, gesteht, dass er lange mit dem Stück gefremdelt habe und dass ihm vieles fremd geblieben sei. Aber das Thema, die große Abrechnung vor dem Tod, habe ihn sofort angesprungen, so der Intendant vorab. Früh sei ihm klar geworden: „Das kann man ganz modern machen.“
Gesagt, getan: Doll macht aus Jedermann einen selbstgefälligen Selfmademan, platziert das Stück inmitten eines Flugzeugwracks. Das bleibt – neben der Treppe und sechs AluAktenkoffern – die ganze Requisite. Doll verlässt sich ganz auf die Dialoge und das schauspielerische Können seines Ensembles.
Da wäre zunächst Gunter Heun als „Jedermann“zu nennen, der mit unheimlicher Bühnenpräsenz raumgreifend von einer Ecke der Treppe zur anderen eilt, stets beide Arme weit ausgebreitet, als möchte er die Welt greifen. Überhaupt: Doll nutzt jeden Winkel, den der Platz hergibt. Mal ruft der Tod (Stefan Lorch), schwarz vom Scheitel bis zur Sohle, von der Kirchturmspitze herab, mal fordert er sein Recht rufend vom Rathaus gegenüber.
Der Mammon als goldener Clown So weit, so gut. Aber immer wieder geht der Spieltrieb mit der Inszenierung durch. So manche Passage könnte man schon als albern bezeichnen. Zum Beispiel, als der Mammon (Kerstin Marie Mäkelburg) als dicker goldener Clown über die Treppe watschelt oder die Vettern sich im Zombietanz zu Discoklängen räkeln. Dafür ist die Schlussszene groß und sehenswert: Das Flugzeug geht in Flammen auf, Sanitäter eilen herbei, während ein einsames „Agnus Dei“über die Treppe weht. Der Teufel (Rouven Magnus Stöhr) tickt förmlich aus, als er vergeblich versucht, sich Jedermann zu holen.
Doll wollte mit der Auswahl des Stücks auch herausfinden, was die Haller vor 94 Jahren dazu geführt hat, ausgerechnet „Jedermann“als erstes Stück auf der Treppe zu spielen, denn der „Jedermann“ist vor allem seiner Sprache wegen ein kantiges Stück. Doll: „Können wir noch etwas damit anfangen?“Der Samstag gab auf diese Frage eine eindeutige Antwort: Wie geläutert man dem Tod ins Auge blickt, ist und bleibt ein aktuelles Thema.
Auch wenn der Andrang auf die Freilichtstücke in diesem Jahr nicht ganz so groß wie in den Vorjahren zu sein scheint, ziehen die Macher der Freilichtspiele, Intendant Doll und Halls Oberbürgermeister HermannJosef Pelgrim, schon jetzt zufrieden Bilanz. Über 40 000 Karten sind bereits verkauft, mehr als die Hälfte davon für die Große Treppe, etwas weniger für die Stücke im Neuen Globe. Als Publikumsrenner mit fast 10 000 Karten im Vorverkauf kristallisiert sich schon jetzt „Elton John und Tim Rice’s Aida“heraus. Das Disney-Musical feiert am 13. Juli Premiere und hat dann bis zum 22. August 22 Aufführungen vor sich. „Jedermann“ist bis zum 6. Juli und noch viermal Mitte August auf der Großen Treppe zu sehen.