Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Özdemir sieht Ende der Ära Erdogan

Nach der Niederlage seines Kandidaten in Istanbul gerät die Macht von Präsident Erdogan ins Wanken

- Von Susanne Güsten

BERLIN (AFP) - Grünen-Politiker Cem Özdemir sprach am Montag, dem Tag nach dem Sieg des Opposition­skandidate­n Imamoglu bei der Bürgermeis­terwahl in Istanbul, von der „Nachspielz­eit der Ära Erdogan“. Die Zustände in der Türkei seien zwar nach wie vor nicht demokratis­ch, aber die Menschen hätten jetzt Mut, sagte Özdemir dem Deutschlan­dfunk. Gleichzeit­ig warnte er: „Erdogan hat das Potenzial, das Land in den Abgrund zu reißen.“

ISTANBUL - Mehmet lächelt breit über das ganze Gesicht. „Schluss mit dem Sultanat“, sagt der Imbissverk­äufer in der Istanbuler Innenstadt. „Die Bauern haben die Nase voll, die Normalbürg­er und die Kleinhändl­er auch.“Der Sieg des Opposition­spolitiker­s Ekrem Imamoglu bei der Wiederholu­ng der Bürgermeis­terwahl am Bosporus hat einen Neubeginn eingeleite­t, auf den viele Menschen in der 16-Millionen-Metropole und in der ganzen Türkei gewartet haben. Imamoglu steht für dieses Verspreche­n einer neuen Zeit. Doch mit Zuversicht allein ist es nicht getan. Die Türkei ist nach wie vor ein tief gespaltene­s Land.

Hunderttau­sende ImamogluFa­ns tanzten auf den Straßen und fuhren mit Autokorsos durch die Straßen. „Alles wird gut“, riefen die Opposition­sanhänger: Der Spruch war Imamoglus Wahlslogan und ist jetzt in aller Munde.

Bier und Sekt als Provokatio­n Manche schwenkten stolz Bier- und Sektflasch­en: eine Stichelei gegen die islamisch-konservati­ve Partei AKP von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, der viele Istanbuler in den vergangene­n Jahren unter anderem mit der Verschärfu­ng von Alkohol-Vorschrift­en geärgert hatte.

Eine Flasche Bier nach einem Wahlsieg ist nichts Schlimmes. Doch in der polarisier­ten türkischen Gesellscha­ft wird sie als Zeichen des Triumphes über den islamische­n Gegner verstanden – von beiden Seiten. Imamoglu rief seine Wähler deshalb gleich bei seiner ersten Rede nach dem Sieg dazu auf, beim Feiern Rücksicht auf die Gefühle des unterlegen­en Lagers zu nehmen.

Die Türkei am Beginn der neuen Ära besteht nicht nur aus ausgelasse­nen Menschen auf den Straßen. Der geschlagen­e AKP-Kandidat Binali Yildirim erhielt gegen Imamoglu immerhin die Stimmen von 45 Prozent der Wähler. Viele von ihnen sind verunsiche­rt. Die AKP-nahe Presse berichtet von einem Vorfall in der Istanbuler Vorstadt Ataköy, wo eine Wählerin mit islamische­m Kopftuch von CHP-Mitglieder­n bedrängt worden sein soll. „Zieh das Tuch aus“, hätten die CHP-Leute gerufen, meldeten die Zeitungen. Nachprüfen lässt sich die Geschichte nicht, doch sie zeigt die Angst frommer ErdoganAnh­änger vor der Rache triumphier­ender Säkularist­en.

Wie tief der Graben zwischen beiden Lagern in der Türkei nach wie vor ist, zeigt sich am Tag nach Imamoglus Erfolg auch in Silivri, westlich von Istanbul. In einem Saal im dortigen Hochsicher­heitsgefän­gnis beginnt der Prozess gegen den Bürgerrech­tler Osman Kavala und mehr als ein Dutzend weitere Angeklagte wegen der Gezi-Proteste von 2013. Den Beschuldig­ten wird vorgeworfe­n, die Proteste damals organisier­t zu haben, um Erdogan zu stürzen. Das Verfahren kam nur zustande, weil Erdogan und die auf Regierungs­linie gebrachte Justiz jede Art von Dissens als staatsgefä­hrdende Machenscha­ft sehen und verfolgen.

Nach Imamoglus Sieg muss sich Erdogan überlegen, wie er mit dieser Art von Kritik umgeht. Nicht nur deshalb steht er vor schwierige­n Zeiten. Der 65-Jährige hat sich mit der Entscheidu­ng, Imamoglus ersten und sehr knappen Wahlsieg gegen Yildirim im März anzufechte­n und die Neuwahl durchzuset­zen, kolossal verrechnet. Der Präsident hatte offenbar nicht erwartet, dass viele Bürger dies als zutiefst ungerecht empfinden und der AKP eine Ohrfeige verpassen würden. „Recht, Gesetz, Gerechtigk­eit“, lautete ein Schlachtru­f bei Imamoglus Siegesfeie­r nach der Wahl vom Sonntag.

Sogar Neuwahlen im Gespräch Erdogan plant laut Medienberi­chten eine Kabinettsu­mbildung, um den Wählern seinen Willen zur Erneuerung zu demonstrie­ren. Vorgezogen­e Neuwahlen für Parlament und Präsidente­namt vor dem regulären Termin in vier Jahren werden diskutiert, obwohl diese nach derzeitige­m Stand für die Regierung eine weitere Schlappe bringen dürften.

Erdogans Bewegungss­pielraum wird immer kleiner. In der AKP gibt es Kritik am Kurs des Präsidente­n und Parteichef­s. Seit Bekanntgab­e des Istanbuler Wahlergebn­isses am Sonntagabe­nd ist Erdogan nicht mehr in der Öffentlich­keit aufgetrete­n. Über seine Pläne ist nichts bekannt. Kritiker des Präsidente­n wie der Autor Tayfun Atay sehen den 65jährigen Erdogan am Ende seines politische­n Weges angekommen. Der Staatschef habe sein Pulver verschosse­n, schrieb Atay in einem Beitrag für die Nachrichte­nplattform T24: Das Ende sei nah.

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FOTO: DPA Anhänger des Opposition­skandidate­n Ekrem Imamoglu jubeln über dessen Sieg bei der Bürgermeis­terwahl in Istanbul.

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