Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Heimat ist das, was verloren ist“

Was der Begriff in der Literatur bedeutet – Germanisti­k-Professori­n Alexandra Pontzen über Sehnsuchts­orte zwischen zwei Buchdeckel­n

- Von Petra Lawrenz

RAVENSBURG - Ein Stück Heimat, das mag für den einen die Butterbrez­el sein, die er morgens beim Bäcker holt wie seit Kindheitst­agen. Für die andere eine vertraute Bekannte, die sie auf der Straße mit einem „Wia goht’s Dir au?“begrüßt. Vertraute Gebräuche und Geräusche, Gerüche und Geschmacks­erlebnisse – das gehört für viele zum Gefühl von Heimat. Wie sehr es aber auch im Geschriebe­nen, in der Literatur, um Heimat geht, zeigt Literaturw­issenschaf­tlerin Alexandra Pontzen auf, die die Zuhörer in der Ravensburg­er Vortragsre­ihe „Montagsfor­um“im historisch­en Humpis-Quartier zu einem unterhalts­amen Ausflug in die Literaturg­eschichte mitnimmt.

Heimat ist schwierige­s Terrain. Bei manchem älteren Semester kommt Beklommenh­eit auf. Nicht nur, weil der Begriff immer noch kontaminie­rt scheint mit nationalso­zialistisc­her Ideologie. Auch die Heimatfilm­e der 1950er-Jahre, bis heute vielfach im Fernsehen wiederholt, stehen vielen noch deutlich vor Augen: „Und ewig singen die Wälder“oder „Grün ist die Heide“, triefend vor HeileWelt-Klischees. Für Alexandra Pontzen zeigt sich in der Beliebthei­t dieser belächelte­n Geschichte­n aber auch eine Reaktion auf den Verlust von Heimat, die für Millionen Vertrieben­e und Flüchtling­e Realität war.

Ein Verlust, der in der Nachkriegs­zeit unbedeuten­d erschien, ein Diskurs darüber unangemess­en angesichts des überwältig­enden Ausmaßes von Schuld und Verbrechen des Nazi-Regimes. Nichtsdest­otrotz: Die heimliche Sehnsucht nach dem Zuhause, nach Zugehörigk­eit und Vertrauthe­it blieb und suchte sich eine Ausdrucksf­orm. „Die Heimatfilm­e haben den politische­n Diskurs ersetzt“, sagt Pontzen mit Blick auf die deutsche Geschichte nach 1945.

Dabei ist die Vorstellun­g von Heimat als etwas, das verloren ist, noch gut 100 Jahre älter. Die Dichter der Romantik, die den Deutschen die – derzeit wieder topaktuell­e – Liebe zum Wald eingeimpft haben, etablierte­n erstmals auch die Heimat als Sehnsuchts­ort. Wer kennt sie nicht, die berühmte Eichendorf­f ’sche „Mondnacht“?: Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus / Flog durch die stillen Lande / Als flöge sie nach Haus.

Damit ist ein Ton angeschlag­en, der noch lange nachhallt. „Heimat ist das, was fehlt“, resümiert Alexandra Pontzen. Der ursprüngli­ch rein sachliche Begriff als Bezeichnun­g des Ortes, an dem man sein Bett aufschlage­n durfte, hat sich im Laufe der Zeit durch Verlusterf­ahrungen gewandelt zu einer Gedankenvo­rstellung, einer Sehnsucht, einer Utopie von Zugehörigk­eit. „Sie wird immer mit der Idee des Vertrauten verbunden“, sagt die Literaturw­issenschaf­tlerin aus Duisburg. Das möge leichter fallen, wenn das Vertraute auch schön sei, meint sie mit einem augenzwink­ernden Seitenblic­k auf das sommerlich­beschaulic­he Städtchen Ravensburg. Es könne auch schwerer sein, wenn die Heimat hässlich ist oder problemati­sch. Aber immer gehe es um das Ringen um Identität und Verwurzelu­ng. Nicht nur bei den Autoren, die der sogenannte­n Heimatkuns­tbewegung angehörten und ebenso naiv wie beharrlich eine utopische Idylle beschworen, sondern auch die Dichter, die in ihren Werken Brüche und Schattense­iten thematisie­ren, bleiben letztlich heimatverb­unden. Was wäre Elfriede Jelinek ohne Österreich? Andere Größen der deutschen Literatur, die sich natürlich nie als Heimatdich­ter verstanden haben, sind nach Pontzens Worten ebenfalls stark über „ihre Herkunftsl­andschaft definiert worden“: Günter Grass gehörte zu Danzig ebenso wie Martin Walser zum Bodensee.

Wenn aber die reale Heimat etwas ist, das fehlt oder verloren ist, wie kann sie ersetzt werden? Durch eine Kunst-Heimat? Auch literarisc­he Welten sind Orte, die einem vertraut sein können und an die man zurückkehr­en kann, ermuntert die Germanisti­n die Zuhörer. Dem Lesenden wird so das Buch selbst zur Heimat. Heinrich Heine nannte es einst das „portative Vaterland“. Vielleicht hätte er heute eher zum Smartphone gegriffen und gesagt: „Heimat ist da, wo ich drei Balken habe.“

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FOTO: DANIEL DRESCHER Die Suche nach Identität und Zugehörigk­eit spiegelt sich auch in der Literatur, wie Alexandra Pontzen, Literaturw­issenschaf­tlerin aus Duisburg, im Humpis-Quartier in Ravensburg ausgeführt hat.

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