Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Jetzt hat Erdogan die Quittung bekommen“
RAVENSBURG - Die Aalener Bundestagsabgeordnete Margit Stumpp (Grüne, Foto: oh) hatte schon die türkischen Kommunalwahlen im März als Wahlbeobachterin verfolgt
– nun war sie auch bei der Wahlwiederholung in Istanbul vor Ort. Ulrich Mendelin hat sie befragt.
Frau Stumpp, welchen Eindruck hatten Sie vom Ablauf der Wahl? Die Wahl wurde von den Oppositionsparteien sehr organisiert beobachtet. Zusätzlich zu den offiziellen Wahlhelfern hat die Opposition ehrenamtliche Wahlbeobachter geschickt. Man spricht von über 10 000 Menschen, die jede einzelne Wahlurne den ganzen Tag nicht aus den Augen gelassen und anschließend die Auszählungen verfolgt haben. Es gab keine Möglichkeit zu manipulieren, ohne dass es jemand bemerkt und gemeldet hätte. Man kann dieses Mal tatsächlich von freien, fairen, demokratischen Wahlen sprechen.
Nach der Wahl im März hatten Sie von Unregelmäßigkeiten und einer massiven Beeinflussung der Wähler gesprochen. War diesmal alles anders?
Im Vorfeld gab es natürlich wieder einen massiven Wahlkampf, die AKP hat alle Register gezogen. Aber die Wählerinnen und Wähler haben sich davon nicht beeindrucken lassen. Sie haben den Versprechungen nicht mehr geglaubt. Und sie haben ihrem Unmut über die Art und Weise, wie man mit dem vorherigen Wahlergebnis umgegangen ist, deutlich Luft gemacht. Das gilt auch für die AKP-Anhänger, von denen viele entweder zu Hause geblieben sind oder das Lager gewechselt haben. Der massive Vorsprung von Ekrem Imamoglu zeigt ein Bewusstsein der Wählerinnen und Wähler, dass sie mit demokratischen Mitteln doch noch etwas verändern können. Das ist ein großes Hoffnungszeichen für die ganze Türkei.
Unregelmäßigkeiten bei der ersten Wahl im März, nun ein einwandfreier Ablauf. Wie erklären Sie sich den Unterschied?
Der Druck war dieses Mal sehr groß, auch durch die ganze Berichterstattung. Da wollte sich die Regierung nicht angreifbar machen. Eine solch massive Beobachtung durch die Zivilgesellschaft wie bei dieser Wahl hat es wohl noch nicht gegeben. Wenn es in dieser Situation zu Unregelmäßigkeiten gekommen wäre, dann hätte es, glaube ich, wirklich Unruhen gegeben.
Als ein Grund für die Annullierung der ursprünglichen Wahl war unter anderem angegeben worden, dass die Wahlhelfer damals teils – anders als vorgeschrieben – keine Staatsbeamte gewesen seien. Hat man die nun alle ausgetauscht?
Nein, das ist völlig absurd. Es gibt kein Gesetz, das besagt, Wahlhelfer müssen Staatsbedienstete sein. Auch deswegen ist wohl selbst bei Erdogan-Anhängern Unmut aufgekommen. Auch sie wussten, die Begründungen für eine Wahlanfechtung sind überhaupt nicht haltbar, die haben keine Grundlage. Und dass die Opposition im März Gelegenheit gehabt haben könnte, ein Wahlergebnis zu manipulieren, ist völlig absurd. Es war vollkommen klar, dass es eine willkürliche Entscheidung und der Druck des Präsidenten war, der letztlich zu dieser neuen Wahl geführt hat. Und jetzt hat Erdogan seine Quittung bekommen.