Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Fast so schön wie Amsterdam, nur ohne Touristen
Die niederländische Stadt Utrecht führt ein Schattendasein und bezieht genau daraus ihren Charme
UTRECHT (dpa) - Utrecht-Besucher kommen schnell ins Staunen: Denn in der viertgrößten Stadt der Niederlande gibt es eine doppelstöckige Gracht, einen halbierten Dom, ein schwebendes Haus und delikate Hexenzähne.
Etwas vereinfacht könnte man sagen: Utrecht ist fast so schön wie Amsterdam – nur ohne Touristen. Oder genauer gesagt: mit viel weniger Touristen. Die meisten Urlauber fahren an Utrecht vorbei Richtung Amsterdam oder Küste. Ein Fehler. Denn die Stadt ist sehr schön und sehr entspannt. Das hat etwas mit ihrer Überschaubarkeit zu tun – in ihr leben nur 350 000 Menschen. Die scheinen gefühlt alle unter 30 zu sein, in Utrecht gibt es fast 70 000 Studenten. Viel Wasser und viel Grün, windschiefe Häuschen und gepflasterte Straßen verleihen der Stadt außerdem einen stellenweise dörflichen Charakter. Man darf sich nicht wundern, wenn plötzlich eine Schar Gänse über die Straße watschelt.
Utrecht hat lange nicht so viele Grachten wie Amsterdam, aber dafür eine besonders große und schöne, die sich durch das gesamte Zentrum zieht: die Oudegracht. Im Gegensatz zu den Amsterdamer Kanälen ist sie zweistöckig: Es gibt eine Ebene auf Straßenniveau und ein paar Meter darunter direkt auf Höhe des Wasserspiegels noch steinerne Anlegestege. Diese niedrig gelegenen Kaianlagen stehen über Tunnel unter der Straße direkt mit den Lagerkellern der Grachtenhäuser in Verbindung. Die Handelsware konnte dadurch vom Wasser aus gleich in die Häuser transportiert werden.
Höchster Kirchturm
Heute sind noch 732 dieser Gewölbekeller übrig, und viele von ihnen haben sich in Cafés, Restaurants, Discos, Clubs oder Geschäfte verwandelt. Im Sommer isst man draußen auf den Anlegestegen, die ganze Innenstadt ist dann von tausendfachem Gemurmel erfüllt, und im Winter stößt man hinter meterdicken Mauern bei Kerzenschein an.
Utrechts bedeutendste Attraktion neben der besonderen Gracht ist der Domturm. Einst besaß die Stadt die größte Kathedrale der Niederlande, heute aber steht von diesem Dom nur noch die hintere Hälfte, die vordere ist weg. Sie verschwand am 1. August 1674, als ein Tornado das Mittelschiff einstürzen ließ. Stehengeblieben ist der 122 Meter hohe Turm, der höchste Kirchturm der Niederlande, den man in dem platten Land schon aus vielen Kilometern Entfernung sieht. Ähnlich wie sich jeder Kölner freut, wenn er nach längerer Abwesenheit wieder die Spitzen des Doms erblickt, geht es auch den Utrechtern. Der Domturm ist eine niederländische Ikone jenseits von Windmühlen, und man sollte ihn unbedingt erklimmen. Von oben kann man bei gutem Wetter einen Großteil des Königreichs überblicken: Man sieht die Dächer von Amsterdam in Nordholland und die Hochhäuser von Rotterdam im Süden.
Doch statt von einer Attraktion zur anderen zu hetzen, lässt man sich in Utrecht am besten einfach durch die Straßen und Gassen der Innenstadt treiben. An einer der schönsten Stellen erhebt sich der Winkel van Sinkel, das 1839 eröffnete erste Kaufhaus der Niederlande. Sein Gründer war der Deutsche Anton Sinkel. Heute beherbergt das Gebäude ein Café und andere Gastronomiebetriebe.
Viele bezaubernde Plätze warten darauf, entdeckt zu werden. Einer davon ist der Kreuzgang des Doms samt Garten und Brunnen. Oder der botanische Garten der Universität, der verwunschen mitten in der Stadt liegt. Darin ein Gingko aus dem 18. Jahrhundert und eine AmazonasRiesenseerose mit eineinhalb Meter Durchmesser. Angeblich kann ein Erwachsener darauf stehen.
Ein Abstecher führt zu freundlichen, älteren Damen, die ehrenamtlich einen Süßigkeitenladen betreiben, genannt Kruideniersmuseum, also Krämermuseum. Man kann sich dort mit allen denkbaren Leckereien eindecken, und zwar zu jenen MiniBeträgen, für die man früher auch in deutschen Läden Drops und Lakritze erhielt. Besonders zu empfehlen sind unter anderem „heksentanden“(Hexenzähne), „harde katjes“(harte Katzen) und „zwarte schoolkrijt“(schwarze Schulkreide).
Ein Höhepunkt ist der Besuch des Rietveld-Schröder-Haus, das für Freiheit und Klarheit steht. Was in Deutschland unter Bauhaus bekannt ist, heißt in den Niederlanden De Stijl. Das fast 100 Jahre alte RietveldSchröder-Haus sieht aus wie ein in Architektur umgewandeltes Bild von Piet Mondrian in Rot, Gelb und Blau. Entworfen hat diesen provozierenden Fremdkörper inmitten klassisch holländischer Backsteinhäuser der Architekt Gerrit Rietveld (18881964). Den Auftrag dazu erhielt er von einer reichen Witwe mit dem schönen Namen Truus SchröderSchräder. Beide wurden später ein Liebespaar. Rietveld sagte der Plüsch- und Fransenliebe seiner Zeitgenossen den Kampf an, er abstrahierte radikal. Wenn man im ersten Stock die Fenster öffnet, wird das Haus eins mit der Landschaft – es scheint zu schweben. Auch die Innenwände lassen sich komplett wegklappen, sodass ein einziger Raum entsteht.
Praktische Details
Rietvelds Haus hat viele praktische Einrichtungen. Zum Beispiel einen durchsichtigen Briefkasten, sodass man ihn nicht erst aufschließen muss, um zu sehen, ob man Post bekommen hat. Oder eine Durchreiche von draußen in die Küche, sodass man die Einkäufe nicht erst durch die Wohnung tragen muss. Oder einen kleinen Aufzug fürs Essen von der Küche ins Esszimmer im ersten Stock. Doch es gibt kaum Stauraum. Wer hier leben will, darf fast nichts besitzen. So ist das Haus heute zwar Weltkulturerbe – aber wohnen will hier niemand. Umso besser für Touristen, die jetzt durch die Räume spazieren können.