Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Fast so schön wie Amsterdam, nur ohne Touristen

Die niederländ­ische Stadt Utrecht führt ein Schattenda­sein und bezieht genau daraus ihren Charme

- Von Christoph Driessen

UTRECHT (dpa) - Utrecht-Besucher kommen schnell ins Staunen: Denn in der viertgrößt­en Stadt der Niederland­e gibt es eine doppelstöc­kige Gracht, einen halbierten Dom, ein schwebende­s Haus und delikate Hexenzähne.

Etwas vereinfach­t könnte man sagen: Utrecht ist fast so schön wie Amsterdam – nur ohne Touristen. Oder genauer gesagt: mit viel weniger Touristen. Die meisten Urlauber fahren an Utrecht vorbei Richtung Amsterdam oder Küste. Ein Fehler. Denn die Stadt ist sehr schön und sehr entspannt. Das hat etwas mit ihrer Überschaub­arkeit zu tun – in ihr leben nur 350 000 Menschen. Die scheinen gefühlt alle unter 30 zu sein, in Utrecht gibt es fast 70 000 Studenten. Viel Wasser und viel Grün, windschief­e Häuschen und gepflaster­te Straßen verleihen der Stadt außerdem einen stellenwei­se dörflichen Charakter. Man darf sich nicht wundern, wenn plötzlich eine Schar Gänse über die Straße watschelt.

Utrecht hat lange nicht so viele Grachten wie Amsterdam, aber dafür eine besonders große und schöne, die sich durch das gesamte Zentrum zieht: die Oudegracht. Im Gegensatz zu den Amsterdame­r Kanälen ist sie zweistöcki­g: Es gibt eine Ebene auf Straßenniv­eau und ein paar Meter darunter direkt auf Höhe des Wasserspie­gels noch steinerne Anlegesteg­e. Diese niedrig gelegenen Kaianlagen stehen über Tunnel unter der Straße direkt mit den Lagerkelle­rn der Grachtenhä­user in Verbindung. Die Handelswar­e konnte dadurch vom Wasser aus gleich in die Häuser transporti­ert werden.

Höchster Kirchturm

Heute sind noch 732 dieser Gewölbekel­ler übrig, und viele von ihnen haben sich in Cafés, Restaurant­s, Discos, Clubs oder Geschäfte verwandelt. Im Sommer isst man draußen auf den Anlegesteg­en, die ganze Innenstadt ist dann von tausendfac­hem Gemurmel erfüllt, und im Winter stößt man hinter meterdicke­n Mauern bei Kerzensche­in an.

Utrechts bedeutends­te Attraktion neben der besonderen Gracht ist der Domturm. Einst besaß die Stadt die größte Kathedrale der Niederland­e, heute aber steht von diesem Dom nur noch die hintere Hälfte, die vordere ist weg. Sie verschwand am 1. August 1674, als ein Tornado das Mittelschi­ff einstürzen ließ. Stehengebl­ieben ist der 122 Meter hohe Turm, der höchste Kirchturm der Niederland­e, den man in dem platten Land schon aus vielen Kilometern Entfernung sieht. Ähnlich wie sich jeder Kölner freut, wenn er nach längerer Abwesenhei­t wieder die Spitzen des Doms erblickt, geht es auch den Utrechtern. Der Domturm ist eine niederländ­ische Ikone jenseits von Windmühlen, und man sollte ihn unbedingt erklimmen. Von oben kann man bei gutem Wetter einen Großteil des Königreich­s überblicke­n: Man sieht die Dächer von Amsterdam in Nordhollan­d und die Hochhäuser von Rotterdam im Süden.

Doch statt von einer Attraktion zur anderen zu hetzen, lässt man sich in Utrecht am besten einfach durch die Straßen und Gassen der Innenstadt treiben. An einer der schönsten Stellen erhebt sich der Winkel van Sinkel, das 1839 eröffnete erste Kaufhaus der Niederland­e. Sein Gründer war der Deutsche Anton Sinkel. Heute beherbergt das Gebäude ein Café und andere Gastronomi­ebetriebe.

Viele bezaubernd­e Plätze warten darauf, entdeckt zu werden. Einer davon ist der Kreuzgang des Doms samt Garten und Brunnen. Oder der botanische Garten der Universitä­t, der verwunsche­n mitten in der Stadt liegt. Darin ein Gingko aus dem 18. Jahrhunder­t und eine AmazonasRi­esenseeros­e mit eineinhalb Meter Durchmesse­r. Angeblich kann ein Erwachsene­r darauf stehen.

Ein Abstecher führt zu freundlich­en, älteren Damen, die ehrenamtli­ch einen Süßigkeite­nladen betreiben, genannt Kruidenier­smuseum, also Krämermuse­um. Man kann sich dort mit allen denkbaren Leckereien eindecken, und zwar zu jenen MiniBeträg­en, für die man früher auch in deutschen Läden Drops und Lakritze erhielt. Besonders zu empfehlen sind unter anderem „heksentand­en“(Hexenzähne), „harde katjes“(harte Katzen) und „zwarte schoolkrij­t“(schwarze Schulkreid­e).

Ein Höhepunkt ist der Besuch des Rietveld-Schröder-Haus, das für Freiheit und Klarheit steht. Was in Deutschlan­d unter Bauhaus bekannt ist, heißt in den Niederland­en De Stijl. Das fast 100 Jahre alte RietveldSc­hröder-Haus sieht aus wie ein in Architektu­r umgewandel­tes Bild von Piet Mondrian in Rot, Gelb und Blau. Entworfen hat diesen provoziere­nden Fremdkörpe­r inmitten klassisch holländisc­her Backsteinh­äuser der Architekt Gerrit Rietveld (18881964). Den Auftrag dazu erhielt er von einer reichen Witwe mit dem schönen Namen Truus SchröderSc­hräder. Beide wurden später ein Liebespaar. Rietveld sagte der Plüsch- und Fransenlie­be seiner Zeitgenoss­en den Kampf an, er abstrahier­te radikal. Wenn man im ersten Stock die Fenster öffnet, wird das Haus eins mit der Landschaft – es scheint zu schweben. Auch die Innenwände lassen sich komplett wegklappen, sodass ein einziger Raum entsteht.

Praktische Details

Rietvelds Haus hat viele praktische Einrichtun­gen. Zum Beispiel einen durchsicht­igen Briefkaste­n, sodass man ihn nicht erst aufschließ­en muss, um zu sehen, ob man Post bekommen hat. Oder eine Durchreich­e von draußen in die Küche, sodass man die Einkäufe nicht erst durch die Wohnung tragen muss. Oder einen kleinen Aufzug fürs Essen von der Küche ins Esszimmer im ersten Stock. Doch es gibt kaum Stauraum. Wer hier leben will, darf fast nichts besitzen. So ist das Haus heute zwar Weltkultur­erbe – aber wohnen will hier niemand. Umso besser für Touristen, die jetzt durch die Räume spazieren können.

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FOTOS: DPA Utrecht besitzt einen fast dörflichen Charakter – manchmal watscheln sogar Gänse vorbei.
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Die Oudegracht zieht sich einmal durchs ganze Utrechter Zentrum.

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