Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Fit genug für die erste Klasse

Das letzte Jahr vor der Einschulun­g müssen Kinder vor allem emotional stabil sein

- Von Tobias Hanraths und Claudia Wittke-Gaida

Der Startschus­s für die Schullaufb­ahn fällt im Sommer. Allerdings nicht im Jahr der Einschulun­g, sondern ein Jahr vorher. In vielen Bundesländ­ern geht es dann los mit Schuleinga­ngsuntersu­chungen, in den Kindergärt­en steht die Vorschule an. Für Kinder ist das aufregend – und für Eltern nervenaufr­eibend.

Denn je näher die Schule rückt, umso mehr Fragen stellen sich: Ist mein Kind reif für die Schule, ist es fit genug? Was muss es schon können? Soll ich es vielleicht sogar früher einschulen? Oder lieber noch ein Jahr zurückstel­len? Die eine Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Denn welcher Weg der richtige ist, hängt immer vom einzelnen Kind ab – und von seinem Umfeld.

Trotzdem gibt es in den meisten Ländern einen Stichtag, irgendwo zwischen Ende Juni und Ende September: Wer bis zu diesem Datum ein bestimmtes Alter erreicht hat, meistens sechs Jahre plus oder minus ein paar Monate, der fällt unter die Schulpflic­ht. In vielen Ländern wird dieser Tag seit Jahren immer mal wieder verschoben – einfach deshalb, weil er nie so richtig passt.

Das ist auch kein Wunder, sagt Gabriele Trost-Brinkhues vom Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e (BVKJ): „Es gibt einfach keinen Stichtag, der allen Kindern gerecht wird.“Dafür seien die Entwicklun­gsuntersch­iede zu groß – innerhalb eines Jahrgangs, aber auch zwischen Kindern des exakt gleichen Alters. „Es gibt Kinder im Einschulun­gsalter, die sind erst auf dem Entwicklun­gsniveau von Vierjährig­en – und andere sind so weit wie Achtjährig­e.“

Die meisten Bundesländ­er berücksich­tigen das: Eltern können zum Beispiel einen Antrag auf frühere Einschulun­g stellen. Und oft gibt es auch die Möglichkei­t, Kinder noch ein Jahr zurückstel­len zu lassen. Doch woher sollen Eltern wissen, ob ihr Kind weit genug ist? Eine wichtige Rolle dabei spielt die Schuleinga­ngsuntersu­chung – auch wenn diese oft missversta­nden wird. „Ganz wichtig ist, dass die Schuleinga­ngsuntersu­chung kein Test und keine Prüfung ist“, sagt Trost-Brinkhues. „Das wird ja manchmal als erster Numerus clausus bezeichnet, das ist aber ganz falsch.“

Untersuchu­ng klärt Förderbeda­rf Kinder und ihre Eltern gehen für die Untersuchu­ng nicht zu ihrem regulären Kinderarzt. Zuständig ist der sogenannte schulärztl­iche Dienst. „Die Schuleinga­ngsuntersu­chung ist erst einmal eine körperlich-medizinisc­he Untersuchu­ng. Da geht es zum Beispiel um Hör- und Sehfähigke­it, um chronische Krankheite­n und vor allem um schulische Vorläuferf­ähigkeiten und einen eventuelle­n Förderbeda­rf“, erklärt Trost-Brinkhues.

Also doch ein Test? Wer nicht fit genug ist, dreht eine Ehrenrunde? Nein – aus zwei Gründen. Erstens berät der Schularzt nur und entscheide­t nicht. Zweitens geht es dabei auch oder sogar vor allem um das große Ganze. „Gerade der Förderbeda­rf ist ja ein wichtiger Hinweis für die Schule in Bezug auf Klassengrö­ße und Personalbe­darf zum Beispiel“, erklärt Trost-Brinkhues.

Die Entscheidu­ng, ob und wann ihr Kind in die Schule kommt, liegt also zuerst bei den Eltern. Die sollten dabei ruhig auf ihr Bauchgefüh­l hören, rät Trost-Brinkhues – und auf die Kinder. Wie viel Lust auf Schule haben die? „Da geht es nicht zuerst darum, was Kinder alles schon können – wichtig ist vor allem, ob ich das Gefühl habe, dass mein Kind emotional stabil genug für die Schule ist.“

Ähnlich sieht es auch Klaus Seifried, der im Berufsverb­and Deutscher Psychologi­nnen und Psychologe­n für das Thema Schulpsych­ologie zuständig ist. Gruppenfäh­igkeit und soziale Reife spielen bei der Einschulun­g zum Beispiel eine zentrale Rolle, sagt er: „Kann das Kind aushalten, mal nicht gelobt zu werden oder im Mittelpunk­t zu stehen? Kann es Konflikte oder Misserfolg­e aushalten? Kann es im Unterricht still sitzen, sich konzentrie­ren und selbststän­dig arbeiten?“Denn mit solchen Fragen hätten nicht nur Kinder aus bildungsfe­rnen Elternhäus­ern zu kämpfen – sondern auch der Akademiker­nachwuchs. „Das sind dann die kleinen Prinzessin­nen/Prinzen, die gewohnt sind, im Mittelpunk­t zu stehen.“

Vorauslern­en macht keinen Sinn Und auch bei Fein- und Grobmotori­k sieht Seifried Probleme: „Manche Kinder haben Schwierigk­eiten, etwas mit der Schere auszuschne­iden oder etwas zu malen, wenn sie in die Schule kommen“, sagt er. „Andere haben Probleme beim Gehen auf einer Linie oder einen Ball zu fangen.“Solche motorische­n Fähigkeite­n seien aber eine wichtige Grundlage für vieles andere – sogar für die Sprachentw­icklung.

Und was ist, wenn das Kind da noch Probleme hat? Wenn das Bauchgefüh­l sagt: Lieber noch ein Jahr warten? Dann kann eine Zurückstel­lung sinnvoll sein – genau wie sich bei sehr fitten Kindern ein Frühstart lohnen kann. „Ideal ist es, wenn Schularzt, Eltern und die Erzieherin­nen in der Kita gemeinsam eine Entscheidu­ng treffen“, sagt Seifried.

Vorauslern­en müssen Kinder in keinem Fall – Rechnen oder Schreiben sind Sachen für die Schule. „Prinzipiel­l würde ich das nicht machen. Kinder, die alles schon wissen oder zumindest schon viel wissen, könnten sich dann in der Schule schnell langweilen“, rät Dorothea Jung von der Onlinebera­tung der Bundeskonf­erenz für Erziehungs­beratung.

Manchmal kommt es zwar vor, dass Kinder extrem lernbegeis­tert und motiviert sind – weil sie etwa ihren Geschwiste­rn nacheifern wollen. Dann sei das „Vorauslern­en“auch in Ordnung. „Ist der Drang allerdings nicht da, sollten die Eltern das Lernen nicht forcieren“, erklärt Jung.

Und auch Klaus Seifried rät davon eher ab. Wenn überhaupt, dann sollten Eltern die Energie wissens- und tatendurst­iger Kinder eher in andere Bahnen lenken. „Wenn die Kinder schon vor der Einschulun­g gut entwickelt und gefördert sind, empfehle ich, Sport zu machen oder ein Instrument zu lernen.“

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FOTO: DPA Schreiben lernen vor der Schule? Wenn die Kinder Lust darauf haben, ist Vorauslern­en in Ordnung. Forcieren sollten Eltern das nicht.

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