Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Der Campingplatz des Grauens
Am Landgericht Detmold beginnt der Prozess um massenhaften Kindesmissbrauch in Lügde
LÜGDE - Der Addy habe immer gut mit Kindern gekonnt, erinnerten sich die Dauercamper vom Eichwald bei ihren Zeugenvernehmungen. Die Kinder hätten ihn gemocht, er habe ihnen Süßigkeiten geschenkt, auch mal Klamotten gekauft, Schuhe und sogar Handys, gemeinsame Ausflüge in Freizeitparks organisiert und Ausritte mit dem Pferd. „Der Mann hat eine Wohlfühlatmosphäre für die Kinder geschaffen, hat ihnen Geschenke gemacht“, sagte ein Polizist. Und auch die Erwachsenen mochten den Addy. Auf dem Campingplatz war er so was wie ein Faktotum, er habe Hecken geschnitten, den Urlaubern bei An- und Abreise geholfen, kleine Sachen repariert. Ein guter Typ eigentlich, könnte man meinen.
Dieses „eigentlich“schwingt nun immer mit, wenn die Gemeinde vom Dauercampingplatz Eichwald bei Lügde in Nordrhein-Westfalen über Andreas V. spricht, den sie hier immer noch Addy nennen. Einige der Camper werden sich in den kommenden Wochen vor Gericht noch etwas genauer erinnern müssen und sich auch den Fragen stellen müssen, ob sie denn wirklich gar nichts mitbekommen von dem, was „der gute Onkel Addy“da in seinem vermüllten Bretterverschlag auf der Parzelle nahe der Einfahrt zum Campingplatz tatsächlich getrieben hat mit den Kindern. Und auch um Mario S. wird es gehen, der ebenfalls auf dem Campingplatz lebte und über den eine Dauercamperin sagte, er sei „ein reiner Kindermagnet“gewesen, dem man „so was“nie zugetraut hätte.
Mit „so was“meint die Frau hundertfachen Kindesmissbrauch, für den sich ab diesem Donnerstag vor dem Landgericht in Detmold Andreas V., 56 Jahre alt, und Mario S., 34 Jahre alt, verantworten müssen. Mitangeklagt ist ein dritter Mann, ein 49-jähriger Feuerwehrmann aus Stade, der in mindestens vier Fällen dem Kindesmissbrauch per Webcam zugeschaut und die Täter auch ausdrücklich dazu angestiftet haben soll. Nicht mit auf der Anklagebank sitzen hingegen Verantwortliche von Polizei und Sozialbehörden, die trotz mehrerer Hinweise auf die Verbrechen erst viel zu spät eingegriffen haben. Ihr Versagen dürfte allerdings eine wesentliche Rolle in dem Verfahren spielen.
Die Monstrosität der in der Anklage vorgeworfenen Taten ist erschütternd. Andreas V. soll sich an 23 Mädchen insgesamt fast 300 mal vergangen haben. Ein Fall stammt aus dem Jahr 1998, die anderen ereigneten sich seit 2008. Mario S. wirft die Staatsanwaltschaft 162 Missbrauchstaten an 17 Mädchen und Jungen vor. Keines der Opfer war zum Tatzeitpunkt älter als 13 Jahre, die meisten Grundschülerinnen und Grundschüler. Ein Opferanwalt sagte, dass einige Kinder so klein gewesen seien, dass sie sich nicht mal alleine die Schuhe zubinden konnten. Die Angeklagten sollen ihre Taten teilweise gefilmt und Fotos und Videos davon verkauft haben. Schon jetzt gilt der Fall Lügde als eines der größten Missbrauchsverbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dabei gehen die Ermittler davon aus, dass sie längst nicht alle von V. und S. begangenen Taten bislang aufgeklärt haben.
Der Tatort ist ein zehn Hektar großer, auf einem sanft abfallenden Wiesenhanggelände gelegener Campingplatz im Weserbergland. Es sind vor allem Dauercamper, die auf ihren Parzellen Wohnwagen aufgestellt oder besser gesagt: abgestellt haben. Denn für die meisten „Eichenwalder“ist der Platz seit Jahrzehnten eine Zuflucht aus Stadt und Alltag, wo sie ihre Wochenenden und Urlaube verbringen.
Andreas V. hat fast sein gesamtes Leben auf dem Platz in Lügde verbracht. Anfang der Siebzigerjahre hatten seine Eltern ihr Haus in Duisburg verkauft und waren mit dem Sohn auf den Campingplatz gezogen. Die Familie sei beliebt und „ein Anziehungspunkt vor allem für Kinder“gewesen, erinnert man sich auf dem Platz. Nach dem Tod der Eltern vor zehn Jahren blieb das so, nun kümmerte sich Addy um die Kinder der Nachbarn.
Hinweise ignoriert
Auch Mario S. vom anderen Ende des Campingplatzes hielt sich auffällig oft in der Nähe von Kindern auf. Mit einem Rasenmäher sei er über das Gelände gefahren, im Anhänger stets lachende Jungen und Mädchen, erinnern sich die Nachbarn. Und dass er nun viel mit dem Addy zusammengesteckt habe. Was die beiden da getrieben haben, davon will aber niemand etwas bemerkt haben. Dabei gab es Hinweise, auch an die Behörden. So etwa im Sommer 2016. In diesem Jahr hatte eine junge überforderte Mutter, die Andreas V. seit Jahren vom Campingplatz kennt, beantragt, dem kinderlosen Dauercamper ohne festes Einkommen ihre sechsjährige Tochter zur Pflege anvertrauen zu dürfen. Noch während des Prüfverfahrens, im August 2016, meldete sich eine Mitarbeiterin des Kinderschutzbundes bei der Polizei in Blomberg und beim zuständigen Jugendamt Hameln-Pyrmont. Andreas V. habe zwei Mädchen im Intimbereich angefasst, sagte sie, das habe ihr der Vater der beiden berichtet. Das Jugendamt versprach, sich zu kümmern, der Polizist schrieb einen Vermerk. Mehr passierte nicht. Stattdessen wurde Andreas V. Anfang 2017 vom Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das sechsjährige Mädchen übertragen, an dem er sich nun so häufig wie an keinem anderen Kind vergangen haben soll. In den folgenden sechs Monaten äußerten noch eine JobcenterMitarbeiterin, ein Vater und eine Kindergarten-Psychologin gegenüber dem Jugendamt den Verdacht auf sexuell übergriffiges Verhalten des 56-Jährigen. Doch nichts geschah, erst Anfang Dezember wurde V. nach einer Strafanzeige verhaftet.
Seit dem Frühjahr erinnert auf dem Campingplatz „Eichwald“nichts mehr an den „guten Onkel Addy“. Seine zusammengezimmerte Behausung wurde Anfang April abgerissen, der Bauschutt entsorgt und verbrannt. Die Parzelle soll vorerst nicht vermietet werden. Gras soll auf dem Grundstück wachsen.