Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Haut zu Markte getragen
„All I never wanted“erzählt von zwei Frauen am Beginn und Wendepunkt ihrer Karriere
Ausgerechnet Lindau – so hatte sich die erfolgreiche Schauspielerin Mareile (Mareile Blendl) das nächste Kapitel ihrer Karriere eigentlich nicht vorgestellt. Jahrelang war sie erfolgreich als Fernsehkommissarin im Einsatz gewesen, doch nun hat ihre Figur der Serientod ereilt. Ein großer, würdiger Abschied, so versichert das Team nach der Premierenvorführung, doch ziemlich offensichtlich stecken hinter dem Ableben nicht nur dramaturgische Gründe: Denn Mareile ist mittlerweile 42 Jahre alt und ihre designierte Nachfolgerin merklich jünger. Und allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz haben es Frauen nach dem Überschreiten einer unsichtbaren Altersgrenze nach wie vor schwer, sich im Mediengeschäft halten zu können.
So ergeht es auch Mareile. Die tollen neuen Fernsehrollen bleiben aus, nur das aus ihrer Sicht Provinztheater in Lindau will sie gerne für eine Saison engagieren – ausgerechnet als Hauptrolle in einer Inszenierung von Schillers „Jungfrau von Orleans“. Die Leitung des Theaters ist über den öffentlichkeitswirksamen Coup ganz begeistert, doch die örtliche Presse fragt wenig dezent nach der offenkundigen Diskrepanz zwischen der mit 19 Jahren verstorbenen Jeanne d'Arc und dem Alter ihrer Schauspielerin. Und das Lindauer Ensemble samt aufbrausendem Regisseur ist von dem PromiImport ohnehin wenig begeistert …
Wie sich die von Mareile Blendl zwischen selbstbewusst und zweifelnd mitreißend gespielte Jungfrau wider Willen in Lindau durchzusetzen versucht, das allein würde schon für einen ganzen Film reichen. Doch die Regisseurinnen wollten noch einiges mehr. Zum einen spielen Blendls Schwester Annika und die Lindauerin Leonie Stade sich in der
Rahmenhandlung gewissermaßen selbst: Als zwei engagierte, aber auch etwas unbedarfte Filmemacherinnen, die dokumentieren wollen, wie Frauen im Mode und Mediengeschäft im Wortsinne ihre Haut zu Markte tragen müssen.
Dazu folgen sie zum einen Mareile auf ihrem Weg nach Lindau, zum anderen begleiten sie mit der Kamera aber auch die 17jährige Nina aus der Nähe von Stuttgart, die es als Model in Mailand schaffen will. Gespielt wird diese sehr authentisch von Lida Freudenreich – kein Wunder, schließlich ist sie tatsächlich den gleichen Weg gegangen und der Film zeigt ihre Erfahrungen in teildokumentarischen Aufnahmen. Dabei war sicher hilfreich, dass Leonie Stade vor ihrem Filmstudium selber als Model in Paris und Mailand gearbeitet hat.
Eindringlich vermittelt der Film die gnadenlosen Mechanismen der Modebranche: Wer es nicht schnell schafft, reist stark verschuldet zurück nach Hause, und wer sich weigert, mehr Haut zu zeigen, muss sich Konkurrentinnen geschlagen geben, die damit weitaus weniger Probleme haben.
Wenn Nina sich fröstelnd in Unterwäsche vermessen lässt, wirkt sie wie eine Ware, deren Wert taxiert wird. Trotz solcher ernsten Themen ist das Dokudrama über weite Strecken sarkastischunterhaltsam, und auch die verschachtelte Handlung entfaltet sich auf der Leinwand sehr natürlich. Das macht aus dem Debütwerk kleinen inszenatorischen Schwächen zum Trotz ein so ungewöhnliches wie sehenswertes Filmereignis.
All I Never Wanted.
Regie: Annika Blendl, Leonie Stade. Deutschland 2018. 90 Minuten. Mit Leonie Stade, Annika Blendl, Lida Freudenreich.