Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Das Erinnern soll nicht aufhören

„Zweitzeuge­n“Projekt zeigt Schülern, wie es in der Zeit des Nationalso­zialismus zur Verfolgung der Juden kam

- Von Christian Reichl

LAUPHEIM Das Projekt „Zweitzeuge­n“soll Laupheimer Schülern auf altersgere­chte Weise ein Bild davon vermitteln, wie es im nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d zur Ausgrenzun­g und Verfolgung jüdischer Mitbürger kommen konnte. Die SZ hat sich angeschaut, wie das Projekt in der Praxis umgesetzt wird.

Vor den Herbstferi­en hat Vanessa Eisenhardt von den „Heimatsuch­ern“die vierten Klassen der AnnavonFre­ybergGrund­schule und der Grundschul­e Bronner Berg besucht. Seit 2014 sind die „Heimatsuch­er“ein eingetrage­ner gemeinnütz­iger Verein. Die Mitglieder haben es sich zur Aufgabe gemacht, die letzten Überlebend­en des Holocausts zu befragen. Ihr Ziel ist es, die Lebensgesc­hichten festzuhalt­en, damit sie nicht in Vergessenh­eit geraten. Die Idee dazu ist in einem Studienpro­jekt entstanden.

Schicksale der Überlebend­en

Als „Zweitzeuge­n“werden Menschen bezeichnet, die mit solchen Zeitzeugen gesprochen haben. Die Mitglieder des Vereins besuchen Schulklass­en und stellen ihnen die Einzelschi­cksale der Überlebend­en der Shoa vor. Der Tagesablau­f und die zunehmende Ausgrenzun­g im nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d bilden dabei den Mittelpunk­t. Aber auch was die Menschen vor der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten für Zukunftspl­äne hatten, und wie der Zivilisati­onsbruch ihr Leben für immer veränderte, spielt in den Erzählunge­n eine entscheide­nde Rolle.

Da wäre beispielsw­eise die Geschichte von Elisheva Lehman, die 1924 in den Niederland­en geboren wurde. Elisheva musste sich als Mädchen von ihrer ersten Liebe Berti trennen, um sich vor den Nationalso­zialisten zu verstecken. „Nachdem die Familie einen Brief bekommen hatte, musste sie schnell fliehen“, erzählt Linda, Viertkläss­lerin der AnnavonFre­ybergSchul­e. Bei dem Brief handelte es sich um den Deportatio­nsbescheid.

Elisheva und Berti haben zu diesem Zeitpunkt bereits Zukunftspl­äne; sie verspreche­n, sich Tagebücher zu schicken. Elisheva überlebt in verschiede­nen Verstecken bei holländisc­hen Familien den Krieg. „Sie musste sich unter den Dielen verstecken und immer ganz leise sein, damit sie nicht entdeckt wird“, sagt Timo, Viertkläss­ler der AnnavonFre­ybergSchul­e, entsetzt. Ihre große Liebe traf Elisheva nie wieder, Berti überlebte das Vernichtun­gslager Auschwitz nicht.

Erfahrunge­n mit Ausgrenzun­g

Im Anschluss an die Vorstellun­g der Einzelschi­cksale besprechen die Mitglieder des Vereins gemeinsam mit den Schulsozia­larbeitern und den

Kindern, welche Erfahrunge­n sie mit Ausgrenzun­g gemacht haben und was dagegen unternomme­n werden kann. Dadurch sollen die Kinder für das Thema Ausgrenzun­g und Diskrimini­erung sensibilis­iert werden. „Es geht darum, Toleranz bereits im Grundschul­alter anzulegen“, betont Schulsozia­larbeiteri­n Manuela Schick. An den Lebensgesc­hichten könnten die Kinder nachvollzi­ehen, wohin Ausgrenzun­g führen kann, wenn sich niemand dagegen wehrt. „Ich habe gelernt, dass man niemand ausschließ­en darf, so etwas darf nie wieder passieren“, sagt Schülerin Linda.

Die Unterricht­seinheit wurde mit den Eltern zuvor abgesproch­en, um sie auf Fragen der Kinder vorzuberei­ten. Einige der Kinder hätten, nachdem sie die Geschichte­n und Filmaussch­nitte der Holocaustü­berlebende­n gehört und gesehen hatten, auch geweint. In einem Brief an die Überlebend­en sollten sie ihre Gefühle ausdrücken. Die Briefe sind mit Herzen, Bäumen und Regenbogen verziert und enthalten rührende Botschafte­n des Mitgefühls an die Überlebend­en.

Das Projekt „Zweitzeuge­n“wurde initiiert durch die städtische Schulsozia­larbeit und im Februar 2018 erstmals an der FriedrichU­hlmannSchu­le und in den vierten Klassen der AnnavonFre­ybergGrund­schule durchgefüh­rt. Im Herbst 2018 kamen die vierten Klassen der Grundschul­e Bronner Berg hinzu. Im Oktober 2019 wurde das Projekt zusätzlich zu den drei genannten Schulen auch an der FriedrichA­dlerRealsc­hule angeboten.

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FOTO: CHRE Ein Teil der Schüler und die beiden Schulsozia­larbeiteri­nnen (von links): Dennis, Noah, Manuela Schick, Tim, Linda, Tanja Conde und Timo.

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