Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Sorge um die grüne Insel
Die Wahl in Großbritannien wird zu einer Abstimmung über den Brexit – Die Menschen in Nordirland fürchten sich vor der Rückkehr eines alten Konflikts
An diesem schmalen Streifen Wasser könnte sich einer der größten Konflikte Europas neu entzünden. Der Flurry River fließt friedlich durch die Postkartenlandschaft des irischen Weilers Ravensdale. Nur einige Häuser ragen rechts und links davon aus der weitläufigen grünen Decke heraus. Dieses Panorama könnte man auch im Allgäu finden.
Der Flurry River trennt Irland und Nordirland. Einzig an den TempolimitSchildern erkennen Autofahrer, wann sie die Grenze in Richtung Norden passiert haben – sobald die Schilder die erlaubte Geschwindigkeit in Meilen pro Stunde anzeigen.
Noch kann man die Grenze überschreiten, ohne es überhaupt zu merken. Das könnte sich mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU ändern. Spätestens am 31. Januar 2020 will es aus der EU austreten. Die harte Grenze aus Zeiten des NordirlandKonflikts könnte zurückkehren. Erinnerungen an die „Troubles“werden wach, an den Bürgerkrieg zwischen unionstreuen Protestanten und nationalistischen Katholiken.
Denn der größte Streitpunkt zwischen der EU und Großbritannien war lange Zeit der sogenannte „Backstop“, eine Auffanglösung, die Zollkontrollen und Grenzposten, so wie hier am Flurry River, verhindern soll. Irland verbleibt in der EU; Nordirland wird sie verlassen. Vor einigen Wochen hatten sich Großbritannien und die EU in einem Abkommen darauf verständigt, keine neue Grenze entstehen zu lassen. Ein harter Brexit ohne Abkommen ist dennoch möglich. Am kommenden Donnerstag wählen die Briten ihr neues Parlament. Danach werden die Karten neu gemischt.
Eine harte Grenze würde schwerwiegende wirtschaftliche Folgen haben – und der politische Schaden wäre noch größer. Daher ist in beiden Ländern dieser Tage oft vom „Kollateralschaden“die Rede, den der Brexit auf der Insel anrichten könnte. Denn auch hier in Ravensdale war die Grenze mit dem mühsam ausgehandelten Karfreitagsabkommen, einem Übereinkommen zwischen der Republik Irland, dem Vereinigten Königreich und den Parteien in Nordirland, im Jahr 1998 gefallen. Seitdem kann man in diesem Idyll die Stille praktisch hören – das täuscht darüber hinweg, dass auch diese Grenzregion Schauplatz des blutigen Konflikts war. Viele fürchten sich vor einem Rückfall in alte Zeiten. Peadar Carpenter erinnert sich noch gut daran, wie stark diese Grenze gesichert war – durch Stacheldraht, Panzer und Kontrollposten. „Britische Soldaten patrouillierten auf der schmalen Landstraße, Betonklötze stoppten den Grenzverkehr“, erzählt der frühere Diplomat, der in der Vertretung des irischen Außenministeriums in Nordirland Experte für die Grenzfrage war.
Ganz in der Nähe seien im Jahr 1979 beim sogenannten WarrenpointAnschlag 18 britische Soldaten getötet worden, „so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“, so Carpenter. An der Kingsmill Road, keine 30 Kilometer hinter der Grenze, erinnert eine Gedenkstätte an das Massaker, bei dem 1976 zehn protestantische Arbeiter durch katholische Milizionäre hingerichtet wurden. Zuvor hatten protestantische Paramilitärs eine katholische Familie ermordet.
Sie gehören zu den rund 3700 Menschen, die in den 29 Jahren der Auseinandersetzungen zwischen katholischirischen Nationalisten und britischen Unionisten gestorben sind. Die Katholiken kämpften für die Wiedervereinigung mit dem Süden und gegen die probritischen Protestanten. Über 40 000 Menschen wurden zwischen 1969 und 1998 verletzt, als die Irish Republican Army Anschläge verübte, als protestantische Extremisten der Ulster Volunteer Force und der Ulster Defence Association ihrerseits blutig zurückschlugen. „Jede Familie“, so erzählt es Carpenter, „hat Erinnerungen an den Konflikt.“
Seit der Verabschiedung des Karfreitagsabkommens schweigen zwar die Waffen. Doch wie fragil dieser Frieden ist, zeigt sich in der nordirischen Hauptstadt Belfast. Etwa 100 Mauern und Zäune stehen zwischen katholischen und protestantischen Wohnvierteln. Als „Friedenslinien“sollen sie verhindern, dass es zu weiteren Toten und Verletzten kommt. Meterhoch trennt die stacheldrahtbesetzte Mauer das protestantische Shankill und die katholische Falls Road voneinander. Auf der katholischen Seite zeigen Wandgemälde, die sogenannten „Murals“, IRAKämpfer als Märtyrer des Konflikts, in Shankill wehen verwitterte
Union Jacks im Wind. Nachts werden die Viertel noch immer durch schwere Stahltore abgeriegelt.
Diese Trennung schneidet sich nicht nur ins Stadtbild. Sie zieht sich nach wie vor durch die nordirische Gesellschaft. Bis heute gibt es für die beiden Bevölkerungsgruppen eigene Schulen. Nur zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen in Belfast besuchen gemischten Unterricht. Jede Bevölkerungsgruppe bleibt für sich. Das war auch lange bei James Begley nicht anders. Bis er an dem von der EU mitfinanzierten JugendFörderprogramm „Journeys Project“teilnahm, habe er noch nie einen Protestanten getroffen. Stattdessen haben ihm seine Eltern klare Feindbilder vermittelt, wie der 27Jährige erzählt.
Jetzt ist James, der eine katholische Schule besucht hat, Sozialarbeiter in einem Jugendtreff in Belfast. „Man muss sie akzeptieren und respektieren, aber nicht die Ansichten teilen“, sagt er über die protestantischen Mitbürger. Die bunten, selbstgemalten Plakate voller Motivationssprüche an den Wänden hinter ihm zeigen, dass die jungen Besucher mit dem Erwachsenwerden beschäftigt sind – und weniger mit der jahrhundertealten Feindschaft.
Auch wenn einige der Jugendlichen den Konflikt überwunden haben mögen, kann er leicht wieder Realität für sie werden. „Im Falle eines Brexit ohne Abkommen ist das fundamentale britischirische Karfreitagsabkommen in Gefahr“, sagt der Politloge Duncan Morrow von der Ulster University in Belfast. Zwar habe es in der Bevölkerung bislang wenig Sympathie für Gewalt gegeben, „aber das könnte sich bei einem NoDealBrexit ändern“. Einige paramilitärischen Gruppen haben laut Morrow auch in den vergangenen Jahren neue Mitglieder gewonnen. Durch das „ökonomische Chaos“, das im Falle einer harten Grenze drohe, könnten sich die Katholiken von Nordirland wieder entfremden und die Politik sich polarisieren.
Nach der Wahl am Donnerstag wird sich zeigen, ob dieses Szenario eintritt – und wie groß der „Kollateralschaden“für Nordirland sein wird. Dem amtierenden Premierminister Boris Johnson rechnen Umfragen die besten Chancen ein. Er wirbt mit dem Slogan „Get Brexit Done“(Vollzieht den Brexit). Dafür braucht er eine Mehrheit im Parlament. Bekommt er sie nicht, steigt die Gefahr eines ungeregelten Brexit – und der Rückkehr eines großen Konfliktes.
„Jede Familie hat Erinnerungen an den Konflikt.“
Das sagt der frühere Diplomat Peadar Carpenter, der für das irische Außenministerium in Belfast tätig war.