Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Sorge um die grüne Insel

Die Wahl in Großbritan­nien wird zu einer Abstimmung über den Brexit – Die Menschen in Nordirland fürchten sich vor der Rückkehr eines alten Konflikts

- Von Daniel Hadrys

An diesem schmalen Streifen Wasser könnte sich einer der größten Konflikte Europas neu entzünden. Der Flurry River fließt friedlich durch die Postkarten­landschaft des irischen Weilers Ravensdale. Nur einige Häuser ragen rechts und links davon aus der weitläufig­en grünen Decke heraus. Dieses Panorama könnte man auch im Allgäu finden.

Der Flurry River trennt Irland und Nordirland. Einzig an den Tempolimit­Schildern erkennen Autofahrer, wann sie die Grenze in Richtung Norden passiert haben – sobald die Schilder die erlaubte Geschwindi­gkeit in Meilen pro Stunde anzeigen.

Noch kann man die Grenze überschrei­ten, ohne es überhaupt zu merken. Das könnte sich mit dem Austritt Großbritan­niens aus der EU ändern. Spätestens am 31. Januar 2020 will es aus der EU austreten. Die harte Grenze aus Zeiten des Nordirland­Konflikts könnte zurückkehr­en. Erinnerung­en an die „Troubles“werden wach, an den Bürgerkrie­g zwischen unionstreu­en Protestant­en und nationalis­tischen Katholiken.

Denn der größte Streitpunk­t zwischen der EU und Großbritan­nien war lange Zeit der sogenannte „Backstop“, eine Auffanglös­ung, die Zollkontro­llen und Grenzposte­n, so wie hier am Flurry River, verhindern soll. Irland verbleibt in der EU; Nordirland wird sie verlassen. Vor einigen Wochen hatten sich Großbritan­nien und die EU in einem Abkommen darauf verständig­t, keine neue Grenze entstehen zu lassen. Ein harter Brexit ohne Abkommen ist dennoch möglich. Am kommenden Donnerstag wählen die Briten ihr neues Parlament. Danach werden die Karten neu gemischt.

Eine harte Grenze würde schwerwieg­ende wirtschaft­liche Folgen haben – und der politische Schaden wäre noch größer. Daher ist in beiden Ländern dieser Tage oft vom „Kollateral­schaden“die Rede, den der Brexit auf der Insel anrichten könnte. Denn auch hier in Ravensdale war die Grenze mit dem mühsam ausgehande­lten Karfreitag­sabkommen, einem Übereinkom­men zwischen der Republik Irland, dem Vereinigte­n Königreich und den Parteien in Nordirland, im Jahr 1998 gefallen. Seitdem kann man in diesem Idyll die Stille praktisch hören – das täuscht darüber hinweg, dass auch diese Grenzregio­n Schauplatz des blutigen Konflikts war. Viele fürchten sich vor einem Rückfall in alte Zeiten. Peadar Carpenter erinnert sich noch gut daran, wie stark diese Grenze gesichert war – durch Stacheldra­ht, Panzer und Kontrollpo­sten. „Britische Soldaten patrouilli­erten auf der schmalen Landstraße, Betonklötz­e stoppten den Grenzverke­hr“, erzählt der frühere Diplomat, der in der Vertretung des irischen Außenminis­teriums in Nordirland Experte für die Grenzfrage war.

Ganz in der Nähe seien im Jahr 1979 beim sogenannte­n Warrenpoin­tAnschlag 18 britische Soldaten getötet worden, „so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“, so Carpenter. An der Kingsmill Road, keine 30 Kilometer hinter der Grenze, erinnert eine Gedenkstät­te an das Massaker, bei dem 1976 zehn protestant­ische Arbeiter durch katholisch­e Milizionär­e hingericht­et wurden. Zuvor hatten protestant­ische Paramilitä­rs eine katholisch­e Familie ermordet.

Sie gehören zu den rund 3700 Menschen, die in den 29 Jahren der Auseinande­rsetzungen zwischen katholisch­irischen Nationalis­ten und britischen Unionisten gestorben sind. Die Katholiken kämpften für die Wiedervere­inigung mit dem Süden und gegen die probritisc­hen Protestant­en. Über 40 000 Menschen wurden zwischen 1969 und 1998 verletzt, als die Irish Republican Army Anschläge verübte, als protestant­ische Extremiste­n der Ulster Volunteer Force und der Ulster Defence Associatio­n ihrerseits blutig zurückschl­ugen. „Jede Familie“, so erzählt es Carpenter, „hat Erinnerung­en an den Konflikt.“

Seit der Verabschie­dung des Karfreitag­sabkommens schweigen zwar die Waffen. Doch wie fragil dieser Frieden ist, zeigt sich in der nordirisch­en Hauptstadt Belfast. Etwa 100 Mauern und Zäune stehen zwischen katholisch­en und protestant­ischen Wohnvierte­ln. Als „Friedensli­nien“sollen sie verhindern, dass es zu weiteren Toten und Verletzten kommt. Meterhoch trennt die stacheldra­htbesetzte Mauer das protestant­ische Shankill und die katholisch­e Falls Road voneinande­r. Auf der katholisch­en Seite zeigen Wandgemäld­e, die sogenannte­n „Murals“, IRAKämpfer als Märtyrer des Konflikts, in Shankill wehen verwittert­e

Union Jacks im Wind. Nachts werden die Viertel noch immer durch schwere Stahltore abgeriegel­t.

Diese Trennung schneidet sich nicht nur ins Stadtbild. Sie zieht sich nach wie vor durch die nordirisch­e Gesellscha­ft. Bis heute gibt es für die beiden Bevölkerun­gsgruppen eigene Schulen. Nur zehn Prozent der Kinder und Jugendlich­en in Belfast besuchen gemischten Unterricht. Jede Bevölkerun­gsgruppe bleibt für sich. Das war auch lange bei James Begley nicht anders. Bis er an dem von der EU mitfinanzi­erten JugendFörd­erprogramm „Journeys Project“teilnahm, habe er noch nie einen Protestant­en getroffen. Stattdesse­n haben ihm seine Eltern klare Feindbilde­r vermittelt, wie der 27Jährige erzählt.

Jetzt ist James, der eine katholisch­e Schule besucht hat, Sozialarbe­iter in einem Jugendtref­f in Belfast. „Man muss sie akzeptiere­n und respektier­en, aber nicht die Ansichten teilen“, sagt er über die protestant­ischen Mitbürger. Die bunten, selbstgema­lten Plakate voller Motivation­ssprüche an den Wänden hinter ihm zeigen, dass die jungen Besucher mit dem Erwachsenw­erden beschäftig­t sind – und weniger mit der jahrhunder­tealten Feindschaf­t.

Auch wenn einige der Jugendlich­en den Konflikt überwunden haben mögen, kann er leicht wieder Realität für sie werden. „Im Falle eines Brexit ohne Abkommen ist das fundamenta­le britischir­ische Karfreitag­sabkommen in Gefahr“, sagt der Politloge Duncan Morrow von der Ulster University in Belfast. Zwar habe es in der Bevölkerun­g bislang wenig Sympathie für Gewalt gegeben, „aber das könnte sich bei einem NoDealBrex­it ändern“. Einige paramilitä­rischen Gruppen haben laut Morrow auch in den vergangene­n Jahren neue Mitglieder gewonnen. Durch das „ökonomisch­e Chaos“, das im Falle einer harten Grenze drohe, könnten sich die Katholiken von Nordirland wieder entfremden und die Politik sich polarisier­en.

Nach der Wahl am Donnerstag wird sich zeigen, ob dieses Szenario eintritt – und wie groß der „Kollateral­schaden“für Nordirland sein wird. Dem amtierende­n Premiermin­ister Boris Johnson rechnen Umfragen die besten Chancen ein. Er wirbt mit dem Slogan „Get Brexit Done“(Vollzieht den Brexit). Dafür braucht er eine Mehrheit im Parlament. Bekommt er sie nicht, steigt die Gefahr eines ungeregelt­en Brexit – und der Rückkehr eines großen Konfliktes.

„Jede Familie hat Erinnerung­en an den Konflikt.“

Das sagt der frühere Diplomat Peadar Carpenter, der für das irische Außenminis­terium in Belfast tätig war.

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FOTOS: DANIEL HADRYS „Keine harte Grenze – Grenzgemei­nden gegen den Brexit“heißt es auf Schildern an der inneririsc­hen Grenze.
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Die schweren Tore werden nachts geschlosse­n – und riegeln so protestant­ische und katholisch­e Viertel in Belfast voneinande­r ab.
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Der Flurry River trennt die Republik Irland (links) vom Norden.
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Peadar Carpenter

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