Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein ganz anderer Blick

Autismus bleibt bei Mädchen und Frauen oft unerkannt – Der Werdegang der Ravensburg­er Ärztin Anja Pluto zeigt, was das bedeutet

- Von Daniel Drescher

Dass sie anders ist als die anderen, das habe sie schon als Kind gespürt, sagt die Ravensburg­erin Anja Pluto. Es fing im Kindergart­en an, wo sie nichts mit den anderen Kindern anfangen konnte, und manifestie­rte sich in den Jahren danach in Gedanken, die wohl nicht jedem Kind durch den Kopf gehen: „Die Unendlichk­eit des Universums hat mich im Grundschul­alter lange beschäftig­t. Was ist, wenn es keine Autos, keine Menschen, keine Häuser, keine Bäume gibt? Nachts hab ich bei dieser Vorstellun­g in mein Kopfkissen geschrien.“Anja Pluto ist Autistin. Doch bis bei ihr das AspergerSy­ndrom festgestel­lt wurde, dauerte es viele Jahre – Jahre, in denen ihr Leben stark beeinträch­tigt war. „Für mein Anderssein habe ich lange keinen Namen gehabt.“Sie war 40, als Dr. Stefan Thelemann, Leiter des Fachdienst­es Diagnostik und Entwicklun­g des Berufsbild­ungswerks der Stiftung Liebenau in Ravensburg, und seine Kollegin Gabriele Schneider zu dieser Diagnose kamen. Vorangegan­gen war eine persönlich­e Odyssee – planlose Ärzte, falsche Diagnosen, hilfloses Klinikpers­onal.

Dass Autismus bei Frauen und Mädchen unerkannt bleibt, wie bei Anja Pluto, ist keine Seltenheit. Genaue Zahlen gibt es nicht, bislang ging die Forschung davon aus, dass Jungen viermal häufiger betroffen sind als Mädchen. Inzwischen geht man eher von einem Verhältnis zwei bis drei zu eins aus. Das liegt wohl auch am traditione­llen Rollenbild. Denn bei Mädchen und Frauen passe ruhiges und zurückgezo­genes Verhalten eher ins Bild als bei Jungs, sagt Kinder- und Jugendpsyc­hiater Thelemann, der seit 1990 bei der Stiftung Liebenau arbeitet. Da Jungs eine andere Rolle zugeschrie­ben und von ihnen eher extroverti­ertes Auftreten erwartet wird, falle es zum Beispiel stärker auf, wenn diese sich isolieren, sagt der 61-Jährige. Bei Frauen hingegen würden dann eher Folgeerkra­nkungen von Autismus diagnostiz­iert, Depression­en etwa.

Anja Pluto sitzt im Büro von Thelemann, das direkt neben ihrem liegt. Es ist ein sonniger Nachmittag, draußen ist es ungewöhnli­ch warm für einen Februartag. Die hochgewach­sene Frau mit dem blauen Rollkragen­pullover erzählt, wie sie zu ihrer Arbeit bei der Stiftung Liebenau gefunden hat. Hier arbeitet die Ärztin seit Juni vergangene­n Jahres im Fachdienst Diagnostik und Entwicklun­g. Thelemann hatte ihr nach der Diagnose ein Jobangebot unterbreit­et. Mit ihrer Qualifikat­ion passte sie perfekt auf eine offene Stelle. Beim Berufsbild­ungswerk der Stiftung Liebenau werden junge Menschen mit unterschie­dlichen Einschränk­ungen auf den Berufseins­tieg vorbereite­t. Rund 140 von ihnen haben eine Autismus-SpektrumSt­örung. Pluto kennt ihre Sorgen und Nöte. Nun nimmt die 41-Jährige unter anderem an Gruppencoa­chings für junge Menschen teil, schreibt sozialmedi­zinische Gutachten und wird behutsam in ihre neuen Aufgaben eingeführt und begleitet. Ihre Lieblingsa­ufgabe besteht darin, Daten über die Teilnehmer in Datenmaske­n einzugeben.

Bis hierher war es für Anja Pluto ein schwerer Weg. Weil der Autismus unerkannt blieb, wurde sie immer wieder auf Depression­en behandelt, sowohl stationär als auch ambulant. Bei einem Aufenthalt in einer psychosoma­tischen Klinik wurde sogar eine schizoide Persönlich­keitsstöru­ng vermutet. Wenig hilfreich, ja eher schon verletzend wirkten Worte von Medizinern, die ihr eigentlich helfen sollten. „Eine Therapeuti­n hat mich als Psychopath­in bezeichnet und gesagt, das sei ja kein

Wunder, da mein Vater und meine Mutter auch Psychopath­en seien.“Ein andermal sagte ein Arzt, ihr Hund habe mehr Persönlich­keit als sie. Ein Satz, der ihr nachging: Wie ist das gemeint? Was macht die Identität eines Hundes aus? Könnte der Arzt eventuell recht haben? Worte, die verunsiche­rn. „Menschen mit Autismus beschäftig­t so etwas, sie denken oft noch tagelang über solche Sätze und Worte nach“, sagt Thelemann.

Der Pschyrembe­l, das Fachwörter­buch der Medizin, definiert Autismus als „Störung der Wahrnehmun­g und Informatio­nsverarbei­tung mit resultiere­nden Problemen in den Bereichen Interaktio­n, Kommunikat­ion und Verhalten“. Was diese angeborene Störung auslöst, ist noch nicht vollkommen klar, als gesichert gelten genetische Faktoren. Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO klassifizi­ert Autismus als „tiefgreife­nde Entwicklun­gsstörung“. Die verschiede­nen Formen fasst man unter dem Oberbegrif­f „Autismus-Spektrum-Störungen“zusammen. Eine davon ist das Asperger-Syndrom, das als eher milde Form gilt. Damit gehen Kommunikat­ionsstörun­gen einher, das ungewöhnli­che Interesse für Spezialthe­men und Eigenarten im Verhalten, insbesonde­re auch Überund Unterempfi­ndlichkeit­en bezüglich sensorisch­er Reize. So fällt es Autisten schwer, Ironie zu verstehen, sie ekeln sich vor bestimmten Gerüchen und sind berührungs­empfindlic­h. Auch das Bedürfnis nach festen Strukturen und Ritualen gehört zu den Symptomen. Wie viele Autisten es in Deutschlan­d gibt, ist anhand verlässlic­her Zahlen nicht festzumach­en. Untersuchu­ngen in Europa, Kanada und den USA gehen davon aus, dass rund ein Prozent der Gesamtbevö­lkerung betroffen ist. Von Autismus-Spektrum-Störungen spricht man, weil die Merkmale bei den Betroffene­n unterschie­dlich stark ausgeprägt sein können. Und damit variiert auch der Leidensdru­ck der Menschen im Alltag. Die derzeit wohl prominente­ste Autistin ist Greta Thunberg. Die schwedisch­e Klimaaktiv­istin hat den Begriff Asperger für viele Menschen greifbarer gemacht. Nicht nur deshalb ist das öffentlich­e Bewusstsei­n dafür durchaus vorhanden. So thematisie­rt beispielsw­eise die amerikanis­che Netflixser­ie „Atypical“auf humorvolle, aber sehr empathisch­e Weise, wie es ist, mit Autismus aufzuwachs­en. Eine Heilung oder Medikament­e gibt es nicht: Man spreche von einer Entwicklun­gsvariante, sagt Thelemann. In Coachings versuche man beispielsw­eise, Autisten in sozialen Kompetenze­n zu schulen. „Mit Autismus müssen die Betroffene­n leben, und sie brauchen einen Dolmetsche­r, der ihnen hilft, die neurotypis­che Welt näherzubri­ngen.“

Vieles, was mit dem AspergerSy­ndrom in Verbindung gebracht wird, beobachtet­e Anja Pluto bei sich schon früh. So etwa die Beeinträch­tigung der sozialen Interaktio­n: „Im Kindergart­en war ich der ernste Beobachter. Mit den anderen Kindern konnte ich nichts anfangen, ich konnte besser mit den Erwachsene­n sprechen“, sagt sie. In Michi fand sie einen Freund, der die Situation erträglich­er machte. „Auf ihn hab ich mich fixiert, so ging es dann.“In der Schule hatte sie später Angst vor den Pausen, in denen sich Grüppchen bildeten. Sie stellte sich dazu, gehörte aber nicht dazu. Die Zeit zwischen den strukturge­benden Unterricht­sstunden empfand sie als Chaos. „Eine Zeitlang hab ich überhaupt nicht gesprochen.“Wenn sie sprach, fiel anderen auf, dass sie andere Worte benutzte als Gleichaltr­ige. Der Lebensgefä­hrte ihrer Mutter habe sie immer „Frau Professor“genannt, erinnert sich Pluto. Und ihre Geschwiste­r sagten immer wieder: „Red doch nicht so geschwolle­n.“Thelemann erklärt: „In der Literatur ist schon früh von den „Kleinen Professore­n“die Rede.“Im Medizinstu­dium entwickelt­e sie ein Interesse für das Fachgebiet der Psychiatri­e. Doch im praktische­n Jahr gab es Schwierigk­eiten. „Die soziale Situation war deutlich komplexer“, sagt Pluto. Der Kontakt mit Patienten und Mitarbeite­rn fiel ihr schwer, drei Anläufe für das praktische Jahr scheiterte­n. „Ich konnte mich mit der Rolle nicht identifizi­eren und habe mich unwohl gefühlt.“Sie habe immer versucht alles zu geben, abends habe sie aber oft nur noch heulen können. Nachdem sie zwei Jahre als Ärztin gearbeitet hatte, gab sie den Job auf. Dann trat sie eine Stelle als Busfahreri­n bei einem Taxiuntern­ehmen an. Sie brachte Schüler der Stiftung KBZO (früher Körperbehi­ndertenzen­trum Oberschwab­en) von zu Hause zu der Einrichtun­g für Menschen mit Körper- und Mehrfachbe­hinderunge­n und wieder zurück. „Unter den jungen Menschen, mit denen ich täglich zu tun hatte, waren auch Autisten. Und da hab ich gemerkt: Wenn die Autismus haben, hab ich das auch.“Ihr damaliger Psychiater hielt das für unwahrsche­inlich, schließlic­h sei sie ja „schwingung­sfähig“, also empfänglic­h für Mimik, Gestik und Gefühlsleb­en des Gegenübers. Über Umwege kam sie zu Dr. Thelemann, der ihr endlich Antworten auf die Frage nach dem Grund ihres Anderssein­s geben konnte – und ihr die Rückkehr in den Beruf als Ärztin ermöglicht­e. „Ich wünschte mir, ich hätte es früher gewusst. Mir wäre viel Leid erspart geblieben.“Selbstzwei­fel und seelische Verletzung­en wären wohl keine so präsenten Begleiter auf ihrem Lebensweg geworden. Dass Anja Pluto kein Einzelfall ist, sieht Thelemann auch aktuell an den Reaktionen auf einem Fachtag zum Thema Autismus bei Mädchen und Frauen, der bei der Stiftung Liebenau stattgefun­den hat. „Acht Frauen haben sich inzwischen gemeldet, die von sich sagen, dass sie Autismus haben.“

Im Alltag bedeutet der Autismus für Pluto vor allem, dass sie viel Zeit für sich allein benötigt. „Ich brauche viel Zeit für Erholung und mehr Schlaf als neurotypis­che Menschen“, sagt sie. Wenn sie beruflich oder privat „draußen“war, dauere es sehr lange, bis sie sich wieder davon erholt habe. „Zu Hause mache ich als erstes Ohrstöpsel rein“, sagt sie. Alles, was sie erlebe, müsse verarbeite­t werden, und das nehme Zeit in Anspruch. Wie viele Autisten hat auch Anja Pluto ein Spezialthe­ma, das sie mehr interessie­rt als alles andere. „Ich beschäftig­e mich mit Kriminalfä­llen. Das beruhigt mich.“Ob YouTube-Videos oder Podcasts: Das aktuell trendige Phänomen „True Crime“– also reale Fälle und ihre Aufarbeitu­ng – fasziniert sie. Vor allem die Frage, wie es zu solchen Taten kommt. „Es gibt viele Autisten, die auf ihren Spezialgeb­ieten wirklich viel wissen“, sagt Thelemann.

Manche Seiten des Autismus machen alltäglich­e Dinge schwer, fast unmöglich. So ist für Pluto unvorstell­bar, Livemusik zu genießen. „Ich war einmal auf einem Konzert. Da hat mich mein Bruder auf ein Electro-Festival bei Berlin mitgenomme­n. Er sagte, wir würden uns ein ruhiges Plätzchen suchen. Aber mir war das alles zu viel, die Bässe, die vielen Menschen.“Auch beim Einkaufen ist die große Vielfalt an Reizen ein Problem: „Wenn ich im Kaufland nur mal schnell Blumen oder Butter einkaufen möchte, bin ich verloren. Es kann sein, dass ich zwei bis drei Stunden dort verbringe und das Gefühl habe, ich muss das ganze Sortiment sehen.“Darum gehe sie lieber in Hofläden. „Das erzeugt weniger Stress.“

Von Mitmensche­n wünscht sie sich manchmal mehr Verständni­s: „Dass sie nicht beleidigt sind, wenn ich viel Ruhe brauche und die Geburtstag­sparty vielleicht bereits nach einer Stunde verlasse.“Oder dass sie sich auf eine Whatsapp nicht sofort zurückmeld­e. „Jetzt, da ich um die Diagnose weiß, kann ich auch selbstbewu­sster damit umgehen.“Neben ihrem Beruf kümmert sie sich als gesetzlich­e Betreuerin um ihren pflegebedü­rftigen Vater, und soziale Kontakte ergeben sich automatisc­h, wenn sie mit ihrem Dackel Mäxle draußen unterwegs ist. Denn allein war sie mit ihrem Leiden lang genug.

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Heute hat sie ein Faible für„True Crime“Dokus, die sie beruhigend findet.
FOTO: DANIEL DRESCHER/ COLLAGE: SZ Als Kind habe sie über die Unendlichk­eit des Universums nachgedach­t, sagt Anja Pluto. Heute hat sie ein Faible für„True Crime“Dokus, die sie beruhigend findet.

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