Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Ein ganz anderer Blick
Autismus bleibt bei Mädchen und Frauen oft unerkannt – Der Werdegang der Ravensburger Ärztin Anja Pluto zeigt, was das bedeutet
Dass sie anders ist als die anderen, das habe sie schon als Kind gespürt, sagt die Ravensburgerin Anja Pluto. Es fing im Kindergarten an, wo sie nichts mit den anderen Kindern anfangen konnte, und manifestierte sich in den Jahren danach in Gedanken, die wohl nicht jedem Kind durch den Kopf gehen: „Die Unendlichkeit des Universums hat mich im Grundschulalter lange beschäftigt. Was ist, wenn es keine Autos, keine Menschen, keine Häuser, keine Bäume gibt? Nachts hab ich bei dieser Vorstellung in mein Kopfkissen geschrien.“Anja Pluto ist Autistin. Doch bis bei ihr das AspergerSyndrom festgestellt wurde, dauerte es viele Jahre – Jahre, in denen ihr Leben stark beeinträchtigt war. „Für mein Anderssein habe ich lange keinen Namen gehabt.“Sie war 40, als Dr. Stefan Thelemann, Leiter des Fachdienstes Diagnostik und Entwicklung des Berufsbildungswerks der Stiftung Liebenau in Ravensburg, und seine Kollegin Gabriele Schneider zu dieser Diagnose kamen. Vorangegangen war eine persönliche Odyssee – planlose Ärzte, falsche Diagnosen, hilfloses Klinikpersonal.
Dass Autismus bei Frauen und Mädchen unerkannt bleibt, wie bei Anja Pluto, ist keine Seltenheit. Genaue Zahlen gibt es nicht, bislang ging die Forschung davon aus, dass Jungen viermal häufiger betroffen sind als Mädchen. Inzwischen geht man eher von einem Verhältnis zwei bis drei zu eins aus. Das liegt wohl auch am traditionellen Rollenbild. Denn bei Mädchen und Frauen passe ruhiges und zurückgezogenes Verhalten eher ins Bild als bei Jungs, sagt Kinder- und Jugendpsychiater Thelemann, der seit 1990 bei der Stiftung Liebenau arbeitet. Da Jungs eine andere Rolle zugeschrieben und von ihnen eher extrovertiertes Auftreten erwartet wird, falle es zum Beispiel stärker auf, wenn diese sich isolieren, sagt der 61-Jährige. Bei Frauen hingegen würden dann eher Folgeerkrankungen von Autismus diagnostiziert, Depressionen etwa.
Anja Pluto sitzt im Büro von Thelemann, das direkt neben ihrem liegt. Es ist ein sonniger Nachmittag, draußen ist es ungewöhnlich warm für einen Februartag. Die hochgewachsene Frau mit dem blauen Rollkragenpullover erzählt, wie sie zu ihrer Arbeit bei der Stiftung Liebenau gefunden hat. Hier arbeitet die Ärztin seit Juni vergangenen Jahres im Fachdienst Diagnostik und Entwicklung. Thelemann hatte ihr nach der Diagnose ein Jobangebot unterbreitet. Mit ihrer Qualifikation passte sie perfekt auf eine offene Stelle. Beim Berufsbildungswerk der Stiftung Liebenau werden junge Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen auf den Berufseinstieg vorbereitet. Rund 140 von ihnen haben eine Autismus-SpektrumStörung. Pluto kennt ihre Sorgen und Nöte. Nun nimmt die 41-Jährige unter anderem an Gruppencoachings für junge Menschen teil, schreibt sozialmedizinische Gutachten und wird behutsam in ihre neuen Aufgaben eingeführt und begleitet. Ihre Lieblingsaufgabe besteht darin, Daten über die Teilnehmer in Datenmasken einzugeben.
Bis hierher war es für Anja Pluto ein schwerer Weg. Weil der Autismus unerkannt blieb, wurde sie immer wieder auf Depressionen behandelt, sowohl stationär als auch ambulant. Bei einem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik wurde sogar eine schizoide Persönlichkeitsstörung vermutet. Wenig hilfreich, ja eher schon verletzend wirkten Worte von Medizinern, die ihr eigentlich helfen sollten. „Eine Therapeutin hat mich als Psychopathin bezeichnet und gesagt, das sei ja kein
Wunder, da mein Vater und meine Mutter auch Psychopathen seien.“Ein andermal sagte ein Arzt, ihr Hund habe mehr Persönlichkeit als sie. Ein Satz, der ihr nachging: Wie ist das gemeint? Was macht die Identität eines Hundes aus? Könnte der Arzt eventuell recht haben? Worte, die verunsichern. „Menschen mit Autismus beschäftigt so etwas, sie denken oft noch tagelang über solche Sätze und Worte nach“, sagt Thelemann.
Der Pschyrembel, das Fachwörterbuch der Medizin, definiert Autismus als „Störung der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung mit resultierenden Problemen in den Bereichen Interaktion, Kommunikation und Verhalten“. Was diese angeborene Störung auslöst, ist noch nicht vollkommen klar, als gesichert gelten genetische Faktoren. Die Weltgesundheitsorganisation WHO klassifiziert Autismus als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Die verschiedenen Formen fasst man unter dem Oberbegriff „Autismus-Spektrum-Störungen“zusammen. Eine davon ist das Asperger-Syndrom, das als eher milde Form gilt. Damit gehen Kommunikationsstörungen einher, das ungewöhnliche Interesse für Spezialthemen und Eigenarten im Verhalten, insbesondere auch Überund Unterempfindlichkeiten bezüglich sensorischer Reize. So fällt es Autisten schwer, Ironie zu verstehen, sie ekeln sich vor bestimmten Gerüchen und sind berührungsempfindlich. Auch das Bedürfnis nach festen Strukturen und Ritualen gehört zu den Symptomen. Wie viele Autisten es in Deutschland gibt, ist anhand verlässlicher Zahlen nicht festzumachen. Untersuchungen in Europa, Kanada und den USA gehen davon aus, dass rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen ist. Von Autismus-Spektrum-Störungen spricht man, weil die Merkmale bei den Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Und damit variiert auch der Leidensdruck der Menschen im Alltag. Die derzeit wohl prominenteste Autistin ist Greta Thunberg. Die schwedische Klimaaktivistin hat den Begriff Asperger für viele Menschen greifbarer gemacht. Nicht nur deshalb ist das öffentliche Bewusstsein dafür durchaus vorhanden. So thematisiert beispielsweise die amerikanische Netflixserie „Atypical“auf humorvolle, aber sehr empathische Weise, wie es ist, mit Autismus aufzuwachsen. Eine Heilung oder Medikamente gibt es nicht: Man spreche von einer Entwicklungsvariante, sagt Thelemann. In Coachings versuche man beispielsweise, Autisten in sozialen Kompetenzen zu schulen. „Mit Autismus müssen die Betroffenen leben, und sie brauchen einen Dolmetscher, der ihnen hilft, die neurotypische Welt näherzubringen.“
Vieles, was mit dem AspergerSyndrom in Verbindung gebracht wird, beobachtete Anja Pluto bei sich schon früh. So etwa die Beeinträchtigung der sozialen Interaktion: „Im Kindergarten war ich der ernste Beobachter. Mit den anderen Kindern konnte ich nichts anfangen, ich konnte besser mit den Erwachsenen sprechen“, sagt sie. In Michi fand sie einen Freund, der die Situation erträglicher machte. „Auf ihn hab ich mich fixiert, so ging es dann.“In der Schule hatte sie später Angst vor den Pausen, in denen sich Grüppchen bildeten. Sie stellte sich dazu, gehörte aber nicht dazu. Die Zeit zwischen den strukturgebenden Unterrichtsstunden empfand sie als Chaos. „Eine Zeitlang hab ich überhaupt nicht gesprochen.“Wenn sie sprach, fiel anderen auf, dass sie andere Worte benutzte als Gleichaltrige. Der Lebensgefährte ihrer Mutter habe sie immer „Frau Professor“genannt, erinnert sich Pluto. Und ihre Geschwister sagten immer wieder: „Red doch nicht so geschwollen.“Thelemann erklärt: „In der Literatur ist schon früh von den „Kleinen Professoren“die Rede.“Im Medizinstudium entwickelte sie ein Interesse für das Fachgebiet der Psychiatrie. Doch im praktischen Jahr gab es Schwierigkeiten. „Die soziale Situation war deutlich komplexer“, sagt Pluto. Der Kontakt mit Patienten und Mitarbeitern fiel ihr schwer, drei Anläufe für das praktische Jahr scheiterten. „Ich konnte mich mit der Rolle nicht identifizieren und habe mich unwohl gefühlt.“Sie habe immer versucht alles zu geben, abends habe sie aber oft nur noch heulen können. Nachdem sie zwei Jahre als Ärztin gearbeitet hatte, gab sie den Job auf. Dann trat sie eine Stelle als Busfahrerin bei einem Taxiunternehmen an. Sie brachte Schüler der Stiftung KBZO (früher Körperbehindertenzentrum Oberschwaben) von zu Hause zu der Einrichtung für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen und wieder zurück. „Unter den jungen Menschen, mit denen ich täglich zu tun hatte, waren auch Autisten. Und da hab ich gemerkt: Wenn die Autismus haben, hab ich das auch.“Ihr damaliger Psychiater hielt das für unwahrscheinlich, schließlich sei sie ja „schwingungsfähig“, also empfänglich für Mimik, Gestik und Gefühlsleben des Gegenübers. Über Umwege kam sie zu Dr. Thelemann, der ihr endlich Antworten auf die Frage nach dem Grund ihres Andersseins geben konnte – und ihr die Rückkehr in den Beruf als Ärztin ermöglichte. „Ich wünschte mir, ich hätte es früher gewusst. Mir wäre viel Leid erspart geblieben.“Selbstzweifel und seelische Verletzungen wären wohl keine so präsenten Begleiter auf ihrem Lebensweg geworden. Dass Anja Pluto kein Einzelfall ist, sieht Thelemann auch aktuell an den Reaktionen auf einem Fachtag zum Thema Autismus bei Mädchen und Frauen, der bei der Stiftung Liebenau stattgefunden hat. „Acht Frauen haben sich inzwischen gemeldet, die von sich sagen, dass sie Autismus haben.“
Im Alltag bedeutet der Autismus für Pluto vor allem, dass sie viel Zeit für sich allein benötigt. „Ich brauche viel Zeit für Erholung und mehr Schlaf als neurotypische Menschen“, sagt sie. Wenn sie beruflich oder privat „draußen“war, dauere es sehr lange, bis sie sich wieder davon erholt habe. „Zu Hause mache ich als erstes Ohrstöpsel rein“, sagt sie. Alles, was sie erlebe, müsse verarbeitet werden, und das nehme Zeit in Anspruch. Wie viele Autisten hat auch Anja Pluto ein Spezialthema, das sie mehr interessiert als alles andere. „Ich beschäftige mich mit Kriminalfällen. Das beruhigt mich.“Ob YouTube-Videos oder Podcasts: Das aktuell trendige Phänomen „True Crime“– also reale Fälle und ihre Aufarbeitung – fasziniert sie. Vor allem die Frage, wie es zu solchen Taten kommt. „Es gibt viele Autisten, die auf ihren Spezialgebieten wirklich viel wissen“, sagt Thelemann.
Manche Seiten des Autismus machen alltägliche Dinge schwer, fast unmöglich. So ist für Pluto unvorstellbar, Livemusik zu genießen. „Ich war einmal auf einem Konzert. Da hat mich mein Bruder auf ein Electro-Festival bei Berlin mitgenommen. Er sagte, wir würden uns ein ruhiges Plätzchen suchen. Aber mir war das alles zu viel, die Bässe, die vielen Menschen.“Auch beim Einkaufen ist die große Vielfalt an Reizen ein Problem: „Wenn ich im Kaufland nur mal schnell Blumen oder Butter einkaufen möchte, bin ich verloren. Es kann sein, dass ich zwei bis drei Stunden dort verbringe und das Gefühl habe, ich muss das ganze Sortiment sehen.“Darum gehe sie lieber in Hofläden. „Das erzeugt weniger Stress.“
Von Mitmenschen wünscht sie sich manchmal mehr Verständnis: „Dass sie nicht beleidigt sind, wenn ich viel Ruhe brauche und die Geburtstagsparty vielleicht bereits nach einer Stunde verlasse.“Oder dass sie sich auf eine Whatsapp nicht sofort zurückmelde. „Jetzt, da ich um die Diagnose weiß, kann ich auch selbstbewusster damit umgehen.“Neben ihrem Beruf kümmert sie sich als gesetzliche Betreuerin um ihren pflegebedürftigen Vater, und soziale Kontakte ergeben sich automatisch, wenn sie mit ihrem Dackel Mäxle draußen unterwegs ist. Denn allein war sie mit ihrem Leiden lang genug.