Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Hauptsache, irgendwie gewinnen
Der deutsche Beitrag für den ESC ist vor allem auf ein internationales Publikum zugeschnitten
RAVENSBURG - Deutschland will beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) auf Sieg spielen – oder zumindest auf einen vorderen Platz. Dazu bittet Ben Dolic, der Deutschland im Mai beim Finale des Wettbewerbs vertreten wird, mit seinem Song „Violent Thing“auf die Tanzfläche. Die Nummer ist recht zeitgemäß, hat eingängige Elemente und wurde von dem noch etwas zurückhaltenden 22-Jährigen bei den bisherigen Darbietungen auch in den hohen Tonlagen fehlerfrei gesungen. So weit, so vielversprechend – aber ist es auch ein angemessener Beitrag, hinter dem das hiesige Publikum steht?
Daran kann man zweifeln. Denn wenn es um den ESC geht, scheint sich Deutschland mittlerweile ein gutes Stück weit an Aserbaidschan zu orientieren. Denn für den autoritär geführten vorderasiatischen Staat gilt bei dem Wettbewerb schon seit Jahren: Gewinnen ist alles. Dafür werden international die teuersten Komponisten und Choreografen eingekauft, bei den Interpreten greift man gerne auch auf die aserbaidschanische Diaspora etwa in den USA zurück. Das Resultat waren in den letzten Jahren dann auch zahlreiche Top-Platzierungen und ein Sieg.
Beim Auswahlverfahren ist man in Deutschland zwar etwas transparenter, dafür wurde dieses Jahr das demokratischste Element abgeschafft: Das Zuschauervotum, bei dem jeder mitmachen konnte. Die Begründung des ESC-Verantwortlichen Thomas Schreiber: Nur 6,6 Prozent der Zuschauer, die beim nationalen Vorentscheid abgestimmt hatten, hätten im Vorjahr auch beim ESC-Finale ihre Stimme abgegeben. Was zunächst bizarr anmutet – schließlich kann man beim Finale gar nicht für das eigene Land stimmen – ergibt innerhalb der Logik des deutschen ESC-Teams Sinn: Demnach muss der Beitrag nicht unbedingt dem deutschen Publikum gefallen – sondern dem internationalen. Das ist nach den Maßstäben neoliberaler Erfolgsoptimierung vermutlich nur konsequent, nimmt dem Wettbewerb aber auch etwas von seiner Seele.
So hätte etwa der Gewinnertitel aus dem Jahr 2017, Salvador Sobral mit dem wunderschönen „Amar pelos dois“, aus keinem anderen Land als Portugal stammen können. „Violent Thing“würde man dagegen auf Anhieb eher als einen Beitrag der Pop-Perfektionisten aus Skandinavien einordnen – oder eben aus Aserbaidschan. Dagegen kam auch der letzte größere deutsche Erfolg – ein vierter Platz vor gerade mal zwei Jahren, übrigens mit Zuschauerbeteiligung – von einem Individualisten: Michael Schulte hatte das emotionale „You Let Me Walk Alone“selbst komponiert und sammelte mit norddeutscher Tiefenentspannheit Sympathiepunkte.
Nun wirkt auch Ben Dolic bislang durchaus sympathisch und dass er im slowenischen Ljubljana geboren wurde, kann als Zeichen eines multikulturell zusammenwachsenden Europas gesehen werden – allerdings würde dieses Argument eher zünden, wenn er für die Schweiz antreten würde. Denn im dortigen Solothurn lebt Dolic, der 2016 auch schon einmal Slowenien beim ESC vertreten wollte, seit einigen Jahren. Nach Berlin ist er erst im Januar pflichtschuldig gezogen, nachdem er bereits im Dezember von seiner Teilnahme erfahren hatte. So besteht sein Deutschland-Bezug bislang darin, dass er 2018 bei „The Voice of Germany“auf dem zweiten Platz landete.
Soweit vorne sehen ihn die ESCWettbüros derzeit noch nicht, auch wenn der Song vom bulgarisch-österreichischen Erfolgskomponisten Borislav Milanov stammt: Hier liegen derzeit Litauen, Rumänien und Italien vorne. Eine Top-Ten-Platzierung könnte aber durchaus drin sein; ob sich das deutsche Publikum mit dem Song anfreunden kann, wird man schon vorher an den Charts-Plazierungen sehen. So könnte man in diesem Jahr einigermaßen solide über die Runden kommen – und im nächsten dann vielleicht doch wieder ein bisschen mehr Demokratie wagen.