Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Derzeit wird nicht mit der nötigen Weitsicht gehandelt“
Außenpolitik-Expertin Daniela Schwarzer über die Gefahren der Corona-Krise für die Europäische Union
BERLIN - Vor allem über die Finanzen werden sich die EU-Staaten in die Haare bekommen, prophezeit die Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Daniela Schwarzer. Stefan Kegel hat sie befragt.
In der Corona-Krise spricht der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel von einem vollständigen Versagen der EU. Hat der europäische Gedanke tatsächlich ausgedient?
Am Anfang haben sich die Regierungen tatsächlich vor allem auf nationale Maßnahmen konzentriert. Es war ein desaströses Signal, dass man lieber Hilfsmaterial von China liefern und dies von Peking politisch ausschlachten ließ, als europäische Maßnahmen einzuleiten. Inzwischen sind zwar die meisten nationalen Exportstopps für Medizingüter wieder aufgehoben worden, und Erkrankte werden auch in anderen EULändern behandelt. Das sind, wenn auch im Kleinen, schon Zeichen der Solidarität. der Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz gegenüber der „Schwäbischen Zeitung“.
Das Nein zum ersten Entwurf begründet er mit fachlichen Mängeln des „extrem unausgegorenen“Entwurfs: „Die von Bundesgesundheitsminister Spahn ursprünglich verfolgte Lösung per Funkzellenauswertung war rechtlich höchst umstritten und zudem überhaupt nicht zielführend, da viel zu ungenau“, erklärt von Notz. Mit der Suche nach einer datenschutzrechtlich unbedenklichen Lösung sei viel Zeit verschenkt worden.
Auch die Telekom hatte die Pläne kritisiert, da die von Spahn geplante Auswertung von gleichzeitig in einer Funkzelle eingeloggten Handys kaum aussagekräftig sei. Demnach ist die Ortung via Funkzelle nur auf etwa 100 Meter genau.
Eine Lokalisierung über den Nahfeld-Funkstandard Bluetooth – wie sie durch eine auf dem Handy installierten App möglich wäre – hingegen kann relativ zielgenau ermitteln, ob das Gerät eines Infizierten sich auf den kritischen Abstand von unter zwei Meter an das Handy einer anderen Person angenähert hat.
Aber?
Die Grenzen bleiben – teils in Verfahren, die nicht EU-Recht entsprechen – hochgezogen und der Binnenmarkt wird untergraben. Ob die EU zusammenhält, wird sich in besonderer Weise zeigen, wenn die Wirtschaftskrise sich verschärft. Derzeit wird nicht mit der nötigen Weitsicht gehandelt.
Wo verlaufen da die Fronten?
Beim Europäischen Rat am vergangenen Donnerstag haben sich zwei Gruppen gezeigt – Deutschland und
Die Kritik des CDU-Innenpolitikers Armin Schuster, die Opposition habe Lösungen verhindert, sei „infam“, erklärt von Notz. Tatsächlich sei das Ziel der Kontaktverfolgung im engeren Umfeld zu erreichen, aber nicht im staatlichen Abgriff, sondern über eine freiwillige Lösung. Diese könnte eine Handy-App bieten, die das Robert-Koch-Institut derzeit zusammen mit dem Fraunhofer-Institut entwickelt. Das Programm soll freiwillig heruntergeladen werden und über die BluetoothSchnittstelle der Geräte anonymisiert den Abstand zu Nutzern mit der gleichen App messen. Je mehr Menschen eine solche Software benutzen und die Daten austauschen, desto besser wäre das Ergebnis.
Dass solche Gesundheitsapps bei entsprechendem Problembewusstsein gut funktionieren können, zeigt ein Beispiel aus China: Eine für Botschaftsmitarbeiter in Peking entwickelte Smog-App verbreitete sich rasend schnell in der Bevölkerung – und setzte die Regierung in Sachen Luftverschmutzung stark unter Druck.
Die Bundesregierung stellt sich hinter ein solches freiwilliges Programm: einige nordische Staaten auf der einen Seite und Frankreich mit einigen südeuropäischen Staaten auf der anderen. Die Vorstellungen darüber, wie man den bedürftigen Staaten helfen kann, liegen sehr weit auseinander. Der Europäische Rat hat sich mit seiner Zwei-Wochen-Frist etwas Zeit gekauft. Was danach herauskommt, kann für den politischen Zusammenhalt in der EU und die Eurozone entscheidend sein.
Es geht vor allem um die Frage, wie Regierungen, Unternehmen und
„Die Anwendung einer solchen App würde natürlich die überlasteten Gesundheitsämter stark entlasten und auch bei der Eindämmung und der Verlangsamung der Ausbreitung des Virus helfen. In Deutschland wäre natürlich immer die Freiwilligkeit einer solchen Anwendung Voraussetzung“, sagt Regierungssprecherin Ulrike Demmer und verweist darauf, dass auch der Datenschutz berücksichtigt sein müsse.
Auch Digitalstaatsministerin Dorothee Bär hält die Software für „sinnvoll“. „Wir müssen die Möglichkeiten der Digitalisierung jetzt nutzen, um die Krise zu überwinden“, sagte die CSU-Politikerin dem „Handelsblatt“.
Und auch der Grünen-Netzpolitiker Konstantin von Notz kann da mitgehen. Er warnt aber vor zu hohen Erwartungen an eine solche App: „Mit ihr könnten grundsätzlich Lücken in der Kontaktverfolgung geschlossen und die Benachrichtigung von Kontaktpersonen verbessert werden. Sie ist aber kein Allheilmittel, weil nie alle Bürgerinnen und Bürger auf diesem Wege erreichbar sein werden“, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“.
Banken die nötigen finanziellen Mittel zur Krisenbewältigung bekommen. Sehen Sie da die Möglichkeit für eine Einigung?
Auf dem Tisch liegt der Vorschlag der Corona-Bonds, für einen größeren Einsatz des Europäischen Stabilitätsmechanismus – oder auch eine größere Rolle für die EZB, die Europäische Zentralbank. Auf letztere wird man sich politisch am leichtesten einigen können – so war es auch in der Verschuldungs- und Bankenkrise ab 2010.
Hat die EU aus den Krisen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte – Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise etwas gelernt?
Der politische Preis des Nichthandelns der EU am Anfang der Corona-Krise ist hoch. Etwa Italien und Spanien haben registriert, dass am Anfang Hilfsaktionen und politische Solidaritätsbekundungen fehlten. In einigen Staaten nutzen antieuropäische Kräfte dieses Versäumnis politisch aus. Das geschieht vor dem Hintergrund gleich dreier Krisen – der Gesundheitskrise, der bevorstehenden Wirtschafts- und möglicherweise einer Finanzkrise. Eine mangelhafte Abstimmung innerhalb der EU in diesen Fragen könnte zu einer schleichenden Erosion des Systems führen.
Natürlich, da in Schweden (bewusst?) wenig getestet wird, kann man über die tatsächlichen Infektionszahlen noch viel weniger aussagen als bei uns. Es wird darauf ankommen, wie viele Schwerkranke (Krankenhausaufenthalte, Beatmungsfälle) es geben wird.
Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell hofft, die Welle werde in den warmen Monaten abflachen und bis zur nächsten Welle im Herbst habe die Bevölkerung Herdenimmunität erreicht. Halten Sie dieses Konzept für tragbar?
Das Erreichen von Herdenimmunität (schöner: Gemeinschaftsimmunität) ist letztlich eines unserer weltweiten Ziele, es kommt darauf an, dieses Ziel durch sinnvolle Maßnahmen so zu erreichen, dass möglichst wenig Verluste dabei auftreten. Ob die Kurve der Coronavirus-Ausbreitung in den Sommermonaten ausreichend abflacht, ist nicht klar und wird auch von Fachleuten unterschiedlich gesehen.
Wissen wir bereits, ob junge Menschen nach einer Infektion mit dem Coronavirus immun dagegen sind?
Wir gehen derzeit davon aus, da es keine Daten über häufig vorkommende Mehrfacherkrankungen gibt. Auch Affenexperimente sprechen für Immunität nach Infektion. Wie lange die Immunität anhält, kann noch niemand wissen. Sehr schön wäre es, wenn die Immunität mindestens so lange anhält, bis sie dann durch eine neu entwickelte Impfung aufgefrischt werden kann.