Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Ganoven kommen frei, Erdogan-Kritiker nicht
Die Türkei leert in einer umstrittenen Amnestie die Gefängnisse wegen Corona
GISTANBUL - Der Mafiaboss kann auf Freiheit hoffen, der Schriftsteller nicht: Die türkische Regierung hat am Dienstag ein Amnestiegesetz ins Parlament eingebracht, das fast 100 000 Häftlinge aus den überfüllten Haftanstalten des Landes befreien soll, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Sogar Alaattin Cakici, ein berüchtigter Bandenchef, soll nach der Vorlage bald freikommen. Dagegen muss der 70-jährige Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan weiter im Gefängnis bleiben. Denn Altan gilt wie mehr als 100 weitere Journalisten und Tausende Regierungskritiker als „Terrorist“und kann deshalb nicht von der Amnestie profitieren.
Die Parlamentssitzung in Ankara fand ganz im Zeichen der Pandemie statt: Das gesamte Parlamentspräsidium erschien zum Auftakt der mehrtägigen Plenumsberatung am Dienstag mit Mundschutzmasken, und auch die Abgeordneten trugen Masken. Dass die Debatte noch etwas an den Plänen der Regierung ändern wird, ist unwahrscheinlich.
Altan, ein prominenter Kritiker von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, sitzt trotz eines Einspruches des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes seit mehr als dreieinhalb Jahren hinter Gittern. Im vergangenen Herbst kam er nach einem Gerichtsurteil frei, wurde eine Woche später aber erneut inhaftiert. „Ich werde die Welt nie wiedersehen“, schrieb Altan nach seiner Verurteilung – und so wie es jetzt aussieht, könnte er recht behalten. Wie der ebenfalls inhaftierte Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas, der Kunstmäzen Osman Kavala sowie andere Intellektuelle und Journalisten gilt Altan der Regierung als Staatsfeind, der auf keinen Fall freigelassen oder in den Hausarrest entlassen werden darf.
Damit werden die Regierungskritiker in eine Kategorie mit Sexualstraftätern oder Drogenhändlern gesteckt, die hinter Gittern bleiben müssen. Cakici dagegen, ein Verbrecherboss
mit guten Verbindungen zu rechtsgerichteten Politikern, sitzt wegen Körperverletzung im Gefängnis – was kein Hindernis für eine vorzeitige Freilassung ist.
Grundsätzlich sind sich Erdogans Regierung und die Opposition einig, dass die überfüllten Gefängnisse in der Corona-Pandemie gefährliche Infektionsherde werden könnten. Die Haftanstalten des Landes haben Platz für 235 000 Häftlinge, doch 300 000 Menschen sitzen derzeit ein, wie die Zeitung „Habertürk“meldete. Geplant ist die Amnestie für alle, die mindestens die Hälfte ihrer Strafe abgesessen haben, sowie für Schwangere und ältere Häftlinge mit Gesundheitsproblemen. Rund 90 000 Menschen werden so entweder freigelassen oder in den Hausarrest überstellt.
Für Untersuchungshäftlinge gilt die Amnestie allerdings nicht; das sind rund 40 000 Menschen. Das ist nach Ansicht von Kritikern nicht die einzige Ungerechtigkeit bei dem Vorhaben. Fast 40 000 weitere Häftlinge sind wegen mutmaßlicher Terrordelikte hinter Gittern und damit ebenfalls von der Amnestie ausgeschlossen: Der Terrorbegriff wird in der Türkei wesentlich weiter ausgelegt als in europäischen Ländern. So können auch Meinungsäußerungen ohne Gewaltaufruf bestraft werden, indem sie als Beihilfe zum Terrorismus oder als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gewertet werden. Bei Altan genügte ein Fernsehaufritt kurz vor dem Putschversuch von 2016, der ihm als Unterstützung für den Staatsstreich ausgelegt wurde.
Die eingesperrten Dissidenten würden dem Tod ausgeliefert, sagt Mehmet Altan, der Bruder von Ahmet Altan. Die Schieflage in dem Regierungsentwurf sei nicht hinnehmbar, sagen Kritiker, darunter der frühere Staatspräsident Abdullah Gül. Der Europarat forderte am Montag alle Mitgliedsländer auf, sie sollten im Kampf gegen das Coronavirus umfassende Haftentlassungen „ohne Diskriminierung“anordnen.
Doch die Appelle an die Regierung in Ankara verhallen ungehört. Erdogans AKP und die mit ihr verbündete Nationalisten-Partei MHP lehnten in den Ausschussberatungen über die Amnestie alle Änderungsvorschläge ab. Deshalb drohe nun ein „Massenmord“hinter Gittern, wenn sich das Coronavirus in den Haftanstalten ausbreiten sollte, schimpfte der Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu von der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP.