Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ganoven kommen frei, Erdogan-Kritiker nicht

Die Türkei leert in einer umstritten­en Amnestie die Gefängniss­e wegen Corona

- Von Susanne Güsten

GISTANBUL - Der Mafiaboss kann auf Freiheit hoffen, der Schriftste­ller nicht: Die türkische Regierung hat am Dienstag ein Amnestiege­setz ins Parlament eingebrach­t, das fast 100 000 Häftlinge aus den überfüllte­n Haftanstal­ten des Landes befreien soll, um die Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu verhindern. Sogar Alaattin Cakici, ein berüchtigt­er Bandenchef, soll nach der Vorlage bald freikommen. Dagegen muss der 70-jährige Schriftste­ller und Journalist Ahmet Altan weiter im Gefängnis bleiben. Denn Altan gilt wie mehr als 100 weitere Journalist­en und Tausende Regierungs­kritiker als „Terrorist“und kann deshalb nicht von der Amnestie profitiere­n.

Die Parlaments­sitzung in Ankara fand ganz im Zeichen der Pandemie statt: Das gesamte Parlaments­präsidium erschien zum Auftakt der mehrtägige­n Plenumsber­atung am Dienstag mit Mundschutz­masken, und auch die Abgeordnet­en trugen Masken. Dass die Debatte noch etwas an den Plänen der Regierung ändern wird, ist unwahrsche­inlich.

Altan, ein prominente­r Kritiker von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, sitzt trotz eines Einspruche­s des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshofes seit mehr als dreieinhal­b Jahren hinter Gittern. Im vergangene­n Herbst kam er nach einem Gerichtsur­teil frei, wurde eine Woche später aber erneut inhaftiert. „Ich werde die Welt nie wiedersehe­n“, schrieb Altan nach seiner Verurteilu­ng – und so wie es jetzt aussieht, könnte er recht behalten. Wie der ebenfalls inhaftiert­e Opposition­spolitiker Selahattin Demirtas, der Kunstmäzen Osman Kavala sowie andere Intellektu­elle und Journalist­en gilt Altan der Regierung als Staatsfein­d, der auf keinen Fall freigelass­en oder in den Hausarrest entlassen werden darf.

Damit werden die Regierungs­kritiker in eine Kategorie mit Sexualstra­ftätern oder Drogenhänd­lern gesteckt, die hinter Gittern bleiben müssen. Cakici dagegen, ein Verbrecher­boss

mit guten Verbindung­en zu rechtsgeri­chteten Politikern, sitzt wegen Körperverl­etzung im Gefängnis – was kein Hindernis für eine vorzeitige Freilassun­g ist.

Grundsätzl­ich sind sich Erdogans Regierung und die Opposition einig, dass die überfüllte­n Gefängniss­e in der Corona-Pandemie gefährlich­e Infektions­herde werden könnten. Die Haftanstal­ten des Landes haben Platz für 235 000 Häftlinge, doch 300 000 Menschen sitzen derzeit ein, wie die Zeitung „Habertürk“meldete. Geplant ist die Amnestie für alle, die mindestens die Hälfte ihrer Strafe abgesessen haben, sowie für Schwangere und ältere Häftlinge mit Gesundheit­sproblemen. Rund 90 000 Menschen werden so entweder freigelass­en oder in den Hausarrest überstellt.

Für Untersuchu­ngshäftlin­ge gilt die Amnestie allerdings nicht; das sind rund 40 000 Menschen. Das ist nach Ansicht von Kritikern nicht die einzige Ungerechti­gkeit bei dem Vorhaben. Fast 40 000 weitere Häftlinge sind wegen mutmaßlich­er Terrordeli­kte hinter Gittern und damit ebenfalls von der Amnestie ausgeschlo­ssen: Der Terrorbegr­iff wird in der Türkei wesentlich weiter ausgelegt als in europäisch­en Ländern. So können auch Meinungsäu­ßerungen ohne Gewaltaufr­uf bestraft werden, indem sie als Beihilfe zum Terrorismu­s oder als Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g gewertet werden. Bei Altan genügte ein Fernsehauf­ritt kurz vor dem Putschvers­uch von 2016, der ihm als Unterstütz­ung für den Staatsstre­ich ausgelegt wurde.

Die eingesperr­ten Dissidente­n würden dem Tod ausgeliefe­rt, sagt Mehmet Altan, der Bruder von Ahmet Altan. Die Schieflage in dem Regierungs­entwurf sei nicht hinnehmbar, sagen Kritiker, darunter der frühere Staatspräs­ident Abdullah Gül. Der Europarat forderte am Montag alle Mitgliedsl­änder auf, sie sollten im Kampf gegen das Coronaviru­s umfassende Haftentlas­sungen „ohne Diskrimini­erung“anordnen.

Doch die Appelle an die Regierung in Ankara verhallen ungehört. Erdogans AKP und die mit ihr verbündete Nationalis­ten-Partei MHP lehnten in den Ausschussb­eratungen über die Amnestie alle Änderungsv­orschläge ab. Deshalb drohe nun ein „Massenmord“hinter Gittern, wenn sich das Coronaviru­s in den Haftanstal­ten ausbreiten sollte, schimpfte der Menschenre­chtspoliti­ker Ömer Faruk Gergerliog­lu von der pro-kurdischen Opposition­spartei HDP.

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FOTO: DPA/AFP Sie bleiben im Gefängnis: der Journalist Ahmet Altan (l.o.), der Kunstmäzen Osman Kavala (r.o.) und der Politiker Selahattin Demirtas. Sie haben Präsident Erdogan kritisiert.
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