Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Als der Fußball schon einmal stillstand
Die Corona-Krise legt Deutschlands Profisport lahm – Die Aussetzung einer Saison gab es zuletzt vor 75 Jahren
GRAVENSBURG - Noch einmal waren rund 60 000 Menschen ins Berliner Olympiastadion gekommen. Erst am Morgen hatten sie über den Volksempfänger oder durch Flüsterpropaganda erfahren, dass das Finale um die Deutsche Meisterschaft 1944 dort stattfinden würde. Eine Vorsichtsmaßnahme der Parteiführung, es gab jeden Tag Fliegerangriffe und wenn feindliche Bomben das Finale beenden würde, was hätte das wohl für einen Eindruck bei den Volksgenossen hinterlassen? Auch im fünften Kriegsjahr, auch nach Stalingrad, wollten die Nazis die Illusion aufrechterhalten, dass alles gut werde. Je mehr Alltag und Normalität erhalten bliebe, desto stärker das Vertrauen in die Maßnahmen der Regierung. Dazu musste der Sport beitragen, allen voran der populäre Fußball, der in jenen furchtbaren Tagen als „Sorgenbrecher“fungieren sollte, wie die „Fußball Woche“schrieb.
Das Finale zwischen Titelverteidiger Dresdner SC und dem wegen der besonderen Umstände in Kriegszeiten entstandenen Luftwaffensportverein Hamburg war eine einseitige Sache an jenem 18. Juni 1944. Der DSC um den späteren Bundestrainer Helmut Schön gewann mit 4:0. Die Stimmung im ungewohnt lückenhaften Rund war unter dem noch frischen Eindruck der Alliierten-Invasion in der Normandie gedrückt. „Unter den Fackeln des Krieges empfinden wir die Glut unserer Zeit und spüren den Aschenregen, der auch auf die hellen Sporttage herniederfällt“, hieß es in der gemeinsamen Kriegsausgabe von „Kicker“und „Fußball“.
Es war der letzte Kampf um die Deutsche Meisterschaft für vier Jahre, denn in der folgenden Saison 1944/45 geschah das, was die Bundesliga 75 Jahre später mit aller Gewalt verhindern will: Die Meisterschaft wurde ausgesetzt – aus dem Grund, aus dem sie heute unbedingt durchgezogen werden soll. Auch 1944 ging es um die Rettung von Existenzen, allerdings nicht um berufliche, denn Fußball war noch kein Beruf. Vielmehr ging es um das Leben von Spielern und Zuschauern. Von allen Seiten bedrängt, kam der Krieg, den die Nazis 1939 entfacht und in andere Länder getragen hatten, nun in voller Härte nach Deutschland. Das Leben war lebensgefährlich, auch an der „Heimatfront“. Wie sollte man da noch sonntags Fußball spielen? Im
Sommer 1944 war die Parteiführung noch wild entschlossen. „Der Führer gebot, als die Fragen nach Wert und Unwert des Sports zahlreicher wurden, das Weitermachen unter allen Umständen“, hieß es im August in der „Fußball Woche“.
Die erste Runde der Spiele um den Pokal, nach dem verstorbenen Reichssportführer „Tschammer-Pokal“genannt, wurden für den 20. August angesetzt. Gelost wurde nicht, nach Stalingrad durfte keiner mehr unnötige Reisen über mehr als 50 Kilometer machen – eine Folge des „totalen Kriegs“. Deswegen hätte etwa Bayern München gegen den SV Silz bei Innsbruck spielen sollen. „Bei der Paarung wird darauf Rücksicht genommen werden, daß die Eisenbahnstrecken so kurz wie nur möglich gehalten werden“, erläuterte die „Fußball Woche“das Prozedere. Dazu kam es nicht mehr, der Pokal wurde am 4. August ebenso abgesetzt wie der Kampf um die Deutsche Meisterschaft 1945. Guido von Mengden, Stabsleiter der Reichssportführung, begründete etwas verharmlosend: „Für Reichsmeisterschaften und Großveranstaltungen fehlt die immer knapper werdende Freizeit.“
Vor allem fehlte es an Spielern, die meisten schossen in jenen Tagen mit Gewehren und Panzerfäusten statt mit Bällen, auch Nationalspieler wurden längst nicht mehr uk (unabkömmlich) gestellt. Carl Koppehel, im Krieg Pressesprecher des Fachamts Fußball, schildert in seiner „Geschichte des Deutschen Fußballs“(1954) die Verhältnisse jener Tage: „Die Beschränkung für die Teilnahme von Jugendlichen in den Seniorenmannschaften wurde aufgehoben […] Die Gaue beantragten, in den unteren Klassen Spiele für SiebenerMannschaften zuzulassen, um den Spielverkehr aufrechthalten zu können. Mit einer Spielzeit von zweimal 30 Minuten sollte der Ausfall der restlichen Spieler ausgeglichen werden. Die Sommerpause war schon frühzeitig aufgehoben worden, um den Spielverkehr nicht einschlagen zu lassen. Alle Maßnahmen trugen das Merkmal der Kriegseinwirkung.“
Sieben Freunde sollt ihr sein und ein Spiel dauert 60 Minuten – Sepp Herbergers Weisheiten taugten noch wenig anno 1944.
Für die Spiele der höchsten Klassen, den mittlerweile 30 Gauligen, galten sie noch, aber von einem geregelten Spielbetrieb konnte keine Rede mehr sein. 16-Jährige spielten mit 40-Jährigen, Gastspieler sprangen dank Sonderregelungen von einem Club zum anderen – je nachdem wo sie als Soldaten stationiert waren – und „kein Meisterschaftsspieltag verging ohne abgebrochene Spiele“(Koppehel). Abgebrochen wegen Fliegeralarms, was die Presse verschwieg. Sie wählte verschleiernde Formulierungen wie „vor der Zeit ohne ein Verschulden einer der beiden Mannschaften abgebrochen“.
Weiter gespielt wurde ja noch in den meisten Gau-Ligen, deren Meister normal den Deutschen Meister in Endrundenspielen ermittelt hätten. Dieser Stecker aber war durch die Absetzung der Reichsmeisterschaften schon zu Saisonstart gezogen. Vieles war anders. Fachamt-Geschäftsführer Georg Xandry wurde zur Arbeit in einen Rüstungsbetrieb einberufen, weshalb in der Berliner Zentrale des vormaligen DFB nur noch sein Vertreter Carl Koppehel und eine Sekretärin die Stellung hielten. Nicht weiter schlimm: Es gab schon seit 1942 keine Länderspiele mehr zu organisieren, nun entfielen also auch die Meisterendrunden.
Es ging 1944/45 im deutschen Sport nur noch um die Stärkung der Moral. So seien im Krieg 470 000 Veranstaltungen mit 67 Millionen Zuschauern durchgeführt worden, verkündete Guido von Mengden und sah darin „eines der besten Mittel der Volksbetreuung“. Durchhalteparolen für die kämpfende Front und für die Heimatfront prägten die Monate vor dem Zusammenbruch.
„Noch enger zusammenrücken – aber weitermachen“, titelte die „Fußball Woche“am 13. August. Das wurde in manchen Gauen allzu wörtlich genommen. Da es zunehmend an Vereinen mangelte, die noch spielen konnten, wurden in Hessen-Nassau alle 50 Mannschaften vom kleinsten Dorfclub bis zur Frankfurter Eintracht kurzerhand für erstklassig erklärt und auf acht gleichwertige Regionalstaffeln verteilt. Nur in acht Gauen gab es noch eine oberste Liga, darunter die Stadtligen von Berlin und Hamburg. In den Ostgebieten fingen sie teilweise gar nicht mehr an und fast überall wurden die Meisterschaftsspiele bis spätestens Februar 1945 abgebrochen. Mit einer Ausnahme: In Hamburg wurde tatsächlich bis 15. April 1945 durchgehalten, der HSV wurde letzter Kriegsmeister der Hansestadt. Der letzte Tiefschlag für die Vereine kam am 19. Oktober 1944, da erging der Volkssturmerlass: Alle Männer zwischen 16 und 60 mussten zu den Waffen greifen. Nie war Fußball sinnloser.