Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Einsames Pilgern
In schwieriger Zeit suchen Menschen nach Trost an spirituellen Plätzen – Beobachtungen an Orten der Hoffnung
pass auf meine Großeltern auf, die ich immer als selbstverständlich betrachtet habe.“Oder: „Lieber Pfarrer Hieber, mach doch, dass ich und mein Mann gesund bleiben.“Es sind viele Hundert Notizen. Unter den Besuchern sind auch Vertreter aus den sogenannten Risikogruppen. Schwankend zwischen dem Wunsch, die Kraft des Trostes zu tanken und dem Gebot der Vernunft, möglichst das Haus jetzt nicht zu verlassen. In der Nähe des Grabes des Segenspfarrers brennen fast 200 Kerzen in einem verglasten Kasten.
Etwa 70 Kilometer weiter nordwestlich auf dem Bussen, dem heiligen Berg Oberschwabens, wirft eine Frau Anfang 60 Münzen in die Kerzenkasse. Die Wallfahrtskirche St. Johannes Baptist ist an diesem Nachmittag nur spärlich besucht. Auf dem Vorplatz des Gotteshauses verschnauft ein Radfahrer, während er in die Weite der Landschaft blickt. Gekleidet in schwarz-gelb mit Helm und verspiegelter schmaler Brille, sieht er weniger wie ein Pilger aus, sondern eher wie eine Kampfwespe. Die Frau mit der Kerze geht langsam zum Altar, entzündet sie zu Füßen des Gnadenbildes der schmerzhaften Mutter Maria, das eigentliche Ziel der Wallfahrer, und stellt sie in einen der Ständer zu den vielen anderen. Warum sie hier ist? Sie bete für ihren hochbetagten Vater, der nicht verstehen könne, dass er außer dem Pflegedienst keinen Besuch mehr bekommen darf. „Es ist eine Zerreißprobe. Und es zerreißt mir wirklich das Herz.“Sie selbst habe wenig Angst um sich, gebe aber genau acht, halte Abstand. Den Mundschutz, den sie aus ihrer Handtasche kramt, trage sie immer beim Einkaufen. „Aber jetzt in gar keine Kirche mehr zu gehen um zu beten, gerade jetzt, das bring ich nicht fertig“, sagt sie und hofft, dass diese Möglichkeit weiterhin bestehen bleibt.
Rund 70 Kilometer südlich in der Basilika Birnau: Als Barockjuwel normalerweise von Touristen überlaufen, ist sie in dieser Zeit ein stiller Ort. Vereinzelte Gläubige verlieren sich im prächtigen Kirchenschiff. Aushänge vermelden die Absage sämtlicher Gottesdienste wegen der Seuche. Das persönliche Gebet – mit dem gebotenen Abstand zum Nächsten – bleibt zwischen neun und 18 Uhr aber erlaubt.
Gläubige verehren in Birnau unter anderem das Gnadenbild der Muttergottes auf dem Hauptaltar. Auf dem Vorplatz der Basilika sind es die Sonnenanbeter, die sich mit der Wärme und dem Sonnenschein trösten, hingewandt zum glitzernden Bodensee.
„Bei uns sind alle Veranstaltungen abgesagt, es findet derzeit nichts mehr statt“, sagt Niklaus Maier rund 60 Kilometer weiter östlich am Telefon. Der Priester ist Direktor der Gebetsstätte Wigratzbad unweit von Wangen im Allgäu. Gerade jetzt, vor Ostern sei es ein ungewohntes Bild, der leere Parkplatz, die wenigen Menschen. Vor Ort sind die Kapellen offen. Und auch hier fällt auf, dass zwar wenige Menschen sichtbar sind, die Unmengen an brennenden Kerzen aber eindrücklich dokumentieren, dass Gläubige trotz oder gerade wegen des Virus immer noch kommen. „Es ist so, dass wir Gebete und
Kurt Susak, Pfarrer
Impulse ausliegen haben, was sehr gut in Anspruch genommen wird“, sagt Maier. Auch auf das Beichten müsse niemand verzichten – nur eben mit Voranmeldung und dann in der Sakristei, wo Abstand möglich sei. Die Gebetsstätte Wigratzbad geht zurück auf Antonie Rädler, die sich in der NS-Zeit weigerte, den Hitlergruß anzuwenden und eine Mariendarstellung gegen ein Führerbild zu tauschen. Drei nächtliche Mordanschläge auf sie schlugen der Legende nach fehl. Aus Dankbarkeit, dass sie unversehrt geblieben war, baute die junge Frau eine Grotte zur Marienverehrung. Rasch wuchs das Interesse der
Gläubigen – 1976 erkannte die Amtskirche Wigratzbad als Gebetsstätte „Maria vom Sieg“an.
Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, glaubt seit jeher an die positive Kraft von Wallfahrtsorten. In einem Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“sagte er: „Die Wallfahrtszentren sind immer auch Beichtzentren, Gottesdienstzentren, Gebetszentren. Bei Wallfahrten sind Menschen miteinander unterwegs im Gebet und treffen auf einen Wallfahrtsort, eine Kirche. In Wallfahrten lebt das pilgernde Gottesvolk. Deshalb unterstütze ich, unterstützt die ganze Diözese weiterhin das Wallfahrtswesen in ganz besonderer Weise.“Nur jetzt eben vorübergehend mit den gebotenen Einschränkungen, die das Virus diktiert.
Seit der Corona-Pandemie erlebt auch eine kleine Kapelle im tiefsten Bayern im Örtchen Arget bei Sauerlach besondere Aufmerksamkeit. Sie ist der heiligen Corona geweiht, einer frühchristlichen Märtyrerin, laut ökumenischem Heiligenlexikon Schutzheilige der Metzger, des Geldes und der Schatzgräber. Eine Reihe bayerischer Zeitungen berichten von plötzlich regem Zustrom von Gläubigen, die dort eine Kerze anzünden und für ein rasches Ende der Epidemie beten. Die Katholische Nachrichtenagentur berichtet sogar, dass Sauerlachs Pfarrer Josef Steinberger fortan einen jährlichen Bittgang am 14. Mai, dem Gedenktag der Heiligen, zur Corona-Kapelle initiiert, wenn die Krise überstanden sei. Der Legende nach hat die 16-jährige Corona im 2. Jahrhundert ihr Eintreten für den Glauben an Christus mit dem Leben bezahlt.
Zurück auf dem kleinen Friedhof der Allgäuer Gemeinde Merazhofen, wo Pfarrer Kurt Susak, der Dekan im schweizerischen Davos ist, aber aus der Gegend stammt, jetzt sagt, während sein Lächeln strahlt: „Und trotz allem findet Ostern statt und Auferstehung.“Die Auferstehung des Bewusstseins, dass Kirche wichtig sei, dass wir sie bräuchten, wir auf die Erfüllung ihrer vielen Aufgaben im Verborgenen angewiesen seien. „Ich glaube, das ist auch eine Chance für die Kirche.“Die Flut an Fürbitte-Zetteln und das bemerkenswerte Kerzenmeer nähren diese Hoffnung. Und Hoffnung, das ist es schließlich, worauf es bei Ostern ankommt.