Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Erinnerung und Mahnung bis heute
Heute vor 75 Jahren wurden 1212 Internierte des Lagers Lindele befreit – Gedenkfeier fällt aus
GBIBERACH - Es hätte ein Tag des feierlichen Erinnerns sein sollen: Vor genau 75 Jahren marschierten französische Truppen in Biberach ein und übernahmen das Kommando in der Stadt. Es war auch der Tag der Befreiung für insgesamt 1212 britische Deportierte und jüdische Verschleppte im Lager Lindele am nördlichen Stadtrand von Biberach. Die aus diesem Anlass geplante Gedenkstunde, die von Schülern der Klasse 9g der Dollinger-Realschule hätte mitgestaltet werden sollen, muss wegen der CoronaPandemie leider ausfallen. Die SZ skizziert die Geschichte des Lagers auf Basis der Forschungen des Geschichtslehrers Reinhold Adler aus Fischbach, der sich diesem Thema seit Jahrzehnten widmet. Darauf fußt dieser Bericht.
Im Juni 1939, kurz vor Kriegsbeginn, wird Biberach für eine kurze Zeit Garnisonsstadt des Ergänzungsbataillons des Infanterie-Regiments 56, das in die einfache Kaserne auf dem Lindele einzieht. Zu Kriegsbeginn im September aber ist die Wehrmacht bereits wieder weg. Das Lager steht bis August 1940 leer, danach beginnt der Umbau zum Kriegsgefangenenlager. Im Dezember 1940 kommen französische, ab Ostern 1941 rund 900 britische Kriegsgefangene. Spektakulär ist in dieser Zeit ein Ausbruchsversuch, bei dem britische Offiziere in knapp zwei Monaten einen knapp 50 Meter langen Kriechtunnel graben, durch den 26 Offiziere fliehen können. Nur vier davon erreichen die rettende Schweiz, der Rest wird gefasst.
Nachdem die britischen Gefangenen in andere Lager verlegt worden sind, beginnt ab November 1941 eines der dunkelsten Kapitel des Lagers Lindele. Rund 500 bis 600 halb verhungerte sowjetische Kriegsgefangene werden vom Bahnhof Biberach hinauf ins Lager getrieben. In den ersten Wochen nach der Ankunft sterben 146 von ihnen. Ihre Gebeine sowie die weiterer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter werden nach dem Krieg auf dem sogenannten Russenfriedhof an der Memminger Straße bestattet.
1942 kommen französische, serbische und kroatische Kriegsgefangene ins Lager Lindele, bevor dieses ab September 1942 zum Deportiertenlager für Zivilisten wird. Rund 1000 britische Bürger, hauptsächlich aus Guernsey, werden in Biberach interniert. Es handelt sich um Familien mit
Kindern und um ältere Menschen, die ihren Wohnsitz auf den Kanalinseln genommen haben, sowie um britische Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten. Sie alle dienen den Nazis als Geiseln, um über den Austausch deutscher Zivilisten in britischer Hand verhandeln zu können.
Den Deportierten wird erlaubt, eine eigene Lagerverwaltung aufzubauen. Der britische Lagerkapitän Garfield Garland hält den Kontakt zur deutschen Lagerleitung und trägt die Anliegen der Deportierten vor. Die Versorgung des Lagers ist durch regelmäßige Hilfslieferungen des Internationalen Roten Kreuzes gut. Es kommen monatlich Hunderte Pakete. Trotzdem sind die Zustände schwierig: Die Deportierten leiden unter der Enge – teilweise leben bis zu 20 Menschen
in einem Raum. Obwohl als Familienlager gedacht, werden Frauen und Männer in getrennten, abends verschlossenen Baracken untergebracht, der für die Kanalinselbewohner ungewohnt kalte Winter 1942/43 tut sein Übriges.
Dennoch lassen sich die Menschen nicht unterkriegen: In den folgenden Monaten entstehen nach und nach Strukturen wie eine ärztliche Versorgung, eine Lagerschule für die rund 170 Kinder, eine Bibliothek. Es gibt Sport- und Gymnastikkurse, Fußballund Kricketturniere sowie sonntägliche Gottesdienste. 26 Kinder kommen im Lager zur Welt. 80 Deportierte arbeiten in Biberacher Privathaushalten oder bei Bauern. Und dabei entstehen Freundschaften.
Gegen Kriegsende wird das Lager zur Sammelstation für den Austausch von Häftlingen mit Beziehungen zu Großbritannien und den USA. So kommen im November 1944 zunächst 149 nordafrikanische Juden aus dem KZ Bergen-Belsen nach Biberach. Im Januar 1945 folgen 133 deutsch-österreichische Juden aus Holland, die an einem deutsch-amerikanischen Austausch nicht mehr teilnehmen durften. Aus dieser Gruppe sterben sieben Männer, deren sterbliche Überreste 1945/46 auf den jüdischen Friedhof Laupheim überführt wurden.
Das Ende des Lagers Lindele als Internierungslager kam nicht sofort mit der Befreiung durch französische Truppen am 23. April 1945. Die Kanalinselbewohner werden erst Anfang Juni nach England ausgeflogen. Die Juden gelten als Staatenlose und werden zunächst von der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen im Jordanbad betreut.
Eine von ihnen ist die damals 17jährige Marietta Duschnitz (später Moskin), die 1972 ein Jugendbuch mit dem Titel „I am Rosemarie“verfasst, in dem sie das Schicksal der gegen Kriegsende ins Lager Lindele verschlagenen Gruppe deutsch-österreichischer Juden aus den Niederlanden schildert. Im Schuljahr 2002/2003 wird es von 40 Zehntklässlern der Dollinger-Realschule und des Pestalozzi-Gymnasiums unter der Leitung der Lehrer Reinhold Adler und Wolfgang Horstmann in einem beispielhaften Projekt übersetzt und 2005 vom Bertelsmann-Verlag unter dem Titel „Um ein Haar – Überleben im Dritten Reich“veröffentlicht. Auf Grundlage dieses Buchs haben nun die Schüler der 9g der Dollinger-Realschule Texte verfasst, die eigentlich bei der Gedenkfeier an diesem Donnerstag hätten präsentiert werden sollen.
Vom ursprünglichen Lager Lindele ist heute so gut wie nichts mehr zu sehen. Nach 1945 wird es als Flüchtlingslager und Krankenhaus für Heimkehrer genutzt, 1951 zieht die Bereitschaftspolizei dort ein. Alte Baracken werden abgerissen, neue Gebäude auf dem Areal erstellt. Seit 2014 ist es Ausbildungsstandort der Hochschule für Polizei. Erhalten ist noch der Uhrturm des früheren Lagers. Er steht auf dem Gelände als Mahnung und Erinnerung. Vor zwei Jahren hat der Biberacher Gemeinderat beschlossen, dass vor der Einfahrt zum früheren Lager ein Gedenkort in Form eines Infopavillons entstehen soll. Zwischen Biberach und Guernsey besteht seit 1997 eine offizielle Freundschaft.