Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Neue soziale Proteste, Präsidenten-Stürze, mehr Armut
Lateinamerika fürchtet ökonomische und soziale Corona-Folgen mehr als gesundheitliche – Infektionen in Brasilien explodieren, Mexiko erwartet Höhepunkt der Pandemie
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MEXIKO-STADT Die Corona-Pandemie ist mittlerweile auch in Lateinamerika mit Macht angekommen. Allerdings mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen in den einzelnen Ländern, je nachdem wie Ernst die jeweiligen Regierungen die Bedrohung nehmen. So gehört Brasilien inzwischen zu den Ländern mit den weltweit steilsten Infektionsund Todeskurven. Das größte Land Lateinamerikas hat mehr als 115 000 Infizierte und fast 8000 Tote zu beklagen. Die Hospitäler stehen vor dem Kollaps. Für den Monat Mai wird in den meisten Ländern der Region der Höhepunkt der Infektionen erwartet.
Aber viele Länder zwischen Mexiko und Argentinien fürchten bereits die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Epidemie mehr als die gesundheitlichen. Die Nebenwirkungen von Corona seien verheerend, sind sich die Experten sicher. Laut der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) wird keine Weltregion von den ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie so hart getroffen sein wie der amerikanische Subkontinent. Die Volkswirtschaften werden laut CEPAL dieses Jahr um 5,3 Prozent schrumpfen. Der Einbruch in der Wirtschaftskraft werde dabei 29 Millionen Menschen in die Armut reißen. Ende dieses Jahres würden dann 215 der 629 Millionen Lateinamerikaner in Armut leben, mehr als 83 Millionen von ihnen in extremer Armut. Die Pandemie könnte „die schlimmste Wirtschaftskrise in der Geschichte Lateinamerikas“zur Folge
haben, fürchtet der deutsch-brasilianische Politologe Oliver Stuenkel.
Einzelne Regierungen würden sich angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrisen mit Schulden-Umstrukturierungen und Kapitalkontrollen zu helfen suchen, prognostiziert Stuenkel, der beim Thinktank „Fundaçao Getúlio Vargas“in Rio de Janeiro arbeitet. Er geht zudem davon aus, dass die sozialen Proteste des vergangenen Jahres nach Abebben der Coronakrise noch stärker zurückkehren werden. In der Folge würde dann der eine oder andere lateinamerikanische Präsident sein Amt vor Ende des Mandats verlieren, sagt der Politologe voraus. Dabei dürfe man nicht vergessen, dass Lateinamerika schon vor der Pandemie in einer Wirtschaftskrise steckte. Die Zeit zwischen 2014 und 2019 war ein ökonomisches Desaster für den Subkontinent: Das Bruttoinlandsprodukt der Staaten stieg durchschnittlich gerade mal um 0,4 Prozent.
Nun aber verdunkeln laut CEPAL einbrechende Rohstoffpreise, die Abhängigkeit
von China und den USA, die niedrige Steuerquote sowie der Rückgang der Auslandsüberweisungen der Migranten und die hohe Verschuldung das Panorama deutlich. Lateinamerika wendet mit 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mehr für den Schuldendienst auf als es für den Gesundheitssektor (2,3 Prozent) ausgibt. Überhaupt sind Krankenhäuser, Ärzte und Pflegepersonal der Region für einen explosiven Anstieg der Corona-Infizierten nicht gewappnet.
Beispiel Brasilien: Die AmazonasMetropole Manaus könnte das ecuadorianische Guayaquil als die tödlichste Stadt Lateinamerikas ablösen. Die Sterberate ist deutlich höher als im brasilianischen Durchschnitt. In Manaus heben die Menschen mittlerweile Gemeinschaftsgräber aus, weil die Friedhöfe überfüllt sind. Experten gehen davon aus, dass die Haltung von Präsident Jair Bolsonaro mitverantwortlich für den dramatischen Anstieg der Fälle in Brasilien ist. Er bekämpft nach wie vor seine eigenen Gesundheitsbehörden und wehrt sich gegen Kontaktverbote und Geschäftsschließungen.
Mexiko, zweitgrößtes Land Lateinamerikas, verzeichnet rund 26 000 Infizierte und mehr als 2500 Tote, hat die Pandemie aber einigermaßen unter Kontrolle. Das gilt auch für die anderen großen Länder wie Argentinien und Kolumbien, die sehr früh sehr restriktive Maßnahmen ergriffen haben und sie bis heute aufrechterhalten. Die Regierung in Buenos Aires beispielsweise hat bis zum September jegliche Flüge in das Land verboten. Venezuela hat offiziell ausgesprochen niedrige Infektionszahlen, leidet aber unter einer wirtschaftlichen und politischen Krise ungekannten Ausmaßes. Es gibt kein Benzin, kaum Nahrungsmittel und die Preise explodieren, was zu Plünderungen führt. Neben Venezuela, das laut CEPAL ein neuerliches massives Schrumpfen der Wirtschaftskraft (minus 18 Prozent) gegenwärtigen muss,, werden laut Stuenkel vor allem Ecuador und Argentinien nach der Corona-Pandemie leiden. Beide Staaten hätten so hohe Schulden, dass sie diese Krise in die Zahlungsunfähigkeit führen könnte, sagte Stuenkel der britischen BBC. Argentinien hat bereits diesen Monat die Zahlung der Zinsen auf Staatsanleihen ausgesetzt und bemüht sich um eine Umschuldung.
Der Experte der „Fundaçao Getúlio Vargas“sieht in vielen Ländern der Region massive soziale Proteste am Horizont. Alle Länder, in denen nicht bald gewählt würde, stünden vor Anti-Regierungsprotesten. „Ich denke an Brasilien, Chile oder Mexiko“, sagt Stuenkel. Es müsse damit gerechnet werden, dass die Bevölkerungen die aktuellen Machthaber für den Absturz der Lebensqualität verantwortlich machen.In Argentinien jagte die Bevölkerung vor fast 20 Jahren gleich mehrere Präsidenten nach der Staatspleite davon. Und in Brasilien sei Präsidentin Dilma Rousseff vor vier Jahren durch ein Amtsenthebungsverfahren letztlich wegen ihrer schlechten wirtschaftlichen Performance gestürzt, unterstreicht Stuenkel.
„Die Pandemie könnte die schlimmste Wirtschaftskrise in der Geschichte Lateinamerikas zur Folge haben.“
Oliver Stuenkel, Politologe