Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„An uns Gehörlose wird oft nicht gedacht“
Alexandra Schmidt ist taub – Wie die 48-Jährige mit der Mundschutzpflicht umgeht
BIBERACH - Einige Gehörlose haben mit Sorge auf die Einführung der Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr reagiert. Alexandra Schmidt, die in Biberach aufgewachsen ist und heute mit ihrer Familie in Illertissen lebt, ist seit ihrem neunten Lebensmonat taub. Sie müsste in Baden-Württemberg eigentlich keine Maske tragen, weil Gehörlose davon befreit sind. Warum die 48-Jährige dies aber trotzdem tut und wie ihr die Verständigung beim Einkaufen gelingt, schildert sie im schriftlich geführten Interview mit Daniel Häfele.
Frau Schmidt, Sie als Gehörlose müssten in Baden-Württemberg eigentlich keine Maske tragen. Warum tun Sie es trotzdem?
Um andere und mich selbst zu schützen, möchte ich eine Maske tragen. Ich selber setze dabei auf eine selbstgenähte Stoffmaske oder ein über den Mund gezogenes Outdoor-Halstuch. Der Wunsch mancher Gehörlose, alle sollten durchsichtige Masken tragen, kann ich persönlich nicht unterstützen, weil ich umweltbewusst bin und der durchsichtige Teil aus Plastik besteht. Andererseits läuft die Folie beim Sprechen rasch an und der Speichel sammelt sich ungewollt dort. Die Entscheidung muss aber jeder selbst für sich treffen.
Wie war Ihre erste Reaktion als Sie von der Maskenpflicht erfahren haben?
Für mich war klar, dass die Gesundheit vorgeht. Ich selber habe kein Problem damit, da ich – wie viele andere gehörlose Menschen auch – über Kompetenzen in der Gebärdensprache (DGS) verfüge. Dadurch kann ich alles zeigen, mit dem Fingeralphabet zum Beispiel buchstabieren, mit Fingergesten oder mit Augenbrauen und Mimik mich mitteilen. Das Kopfnicken bedeutet „Ja“beziehungsweise das Kopfschütteln „Nein“. Sollte das nicht klappen, kann ich auch etwas auf Papier aufschreiben oder das Smartphone nutzen.
Wie angewiesen sind Gehörlose auf das Lippenlesen beziehungsweise die Verständigung über Mimik?
Wie gesagt, für Menschen mit DGSKompetenzen ist es sicherlich kein Problem, sich mit Maske zu verständigen. Andere Gehörlose wiederum haben große Panik und fordern eine „Maskenfreiheit“, da sie sich eine Kommunikation ohne Mundbild nicht vorstellen können. Ich halte das für etwas übertrieben, da es sich um eine Kleinigkeit handelt. Allerdings kann ich Senioren ohne DGSKompetenzen verstehen. Viele Senioren sind mit dem Oralismus aufgewachsen, das heißt sie haben gelernt, vom Mundbild abzulesen. Erst 2002 wurde in Deutschland die Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt.
Seit mehr als einer Woche gibt es die Maskenpflicht. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ich war in der Metzgerei, beim Bäcker, im Supermarkt, auf dem Markt und beim Optiker wegen einer neuen Brille. Überall hat es gut geklappt, denn die Verkäufer haben schnell verstanden, dass ich nichts höre und schnell reagiert. Wir konnten uns über Gebärden, Fingergesten, Mimik und das Zeigen von Zahlen verständigen. Ich bin stolz darauf, dass sich die Verkäufer sowie Verkäuferinnen und Mitmenschen so viel Mühe bei der Kommunikation geben.
Viele entdecken in diesen Tagen den Videoanruf für einen neuen Weg, um in Kontakt zu bleiben. Wie ist das bei Ihnen?
Schon lange vor der Corona-Pandemie habe ich mit Freunden, die weiter weg wohnen, per WhatsappCam, Skype oder FaceTime kommuniziert. Oder mit „Glide“ein Video aufgenommen und abgeschickt. Seit Corona nutze ich den WhatsApp-Videoanruf nun auch, um mich mit meiner Mutter und mit meinen beiden hörenden Schwestern aus Biberach zu unterhalten. Allerdings kam auch eine neue Herausforderung hinzu: Ich gebe Familien mit gehörlosen Kindern Hausgebärdenkurse. Aufgrund der Pandemie sind die Besuche aktuell nicht möglich und so unterrichte ich momentan per Videotelefonie. Das klappt richtig gut und ich finde es toll, dass es heutzutage so viele Möglichkeiten gibt.
Wie gut läuft aus Ihrer Sicht die Inklusion in der Corona-Krise?
Zu Beginn der Corona-Krise fühlte ich mich nicht genug informiert. Es gab keine Gebärdensprachdolmetscher in den Liveübertragungen beziehungsweise keine Einblendung der Dolmetscher im TV, sondern nur teilweise Untertitel. Das hat sich durch ein Schreiben des Deutschen Gehörlosenbunds beziehungsweise der GMU aus München an die Politik geändert.
Wie sieht es bei Nachrichten aus?
Bei den Abendnachrichten sind auf Phoenix und Tagesschau24 Dolmetscher dabei. Auf den anderen Sendern gibt es nur Untertitel. Andere Länder wie zum Beispiel Brasilien, USA, Spanien oder Frankreich sind uns da weit voraus. Dort gibt es rund um die Uhr Dolmetscher, auch bei Live-Sendungen oder bei TV-Ansprachen der Politiker. Ich finde es sehr schade, dass in Deutschland das Bewusstsein hierfür noch nicht besteht. An uns Gehörlose wird leider oft nicht gedacht. Durch die Corona-Krise wurden viele Politiker wieder aufmerksam auf uns. Für mich bleibt allerdings die Frage: Bleiben die Gebärdensprachdolmetscher im TV auch nach der Pandemie? Oder müssen wir dann wieder darauf verzichten?
Was wünschen Sie sich von hörenden Mitmenschen derzeit?
Ich wünsche mir, dass hörende Menschen jetzt einen Denkanstoß erhalten. Dass das Bewusstsein der Mitmenschen für uns Gehörlose wächst und die Menschen mehr mit uns gebärden, mit Fingergesten zeigen oder mit dem Fingeralphabet buchstabieren – und ganz wichtig: vor allem Blickkontakt halten! Wenn das alles nicht klappt, dann schriftlich kommunizieren, zum Beispiel mittels Smartphone oder mit Stift und Papier.