Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Wir brauchen die Rückerober­ung des Vernünftig­en“

Südwest-Gesundheit­sminister Manfred Lucha spricht über Erreichtes, Skeptiker und den Weg zur Normalität

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RAVENSBURG - Einen Rücktritt schließt er aus. Über die Ermittlung­en in der Affäre um Fördermitt­el für den Kabarettis­ten Christoph Sonntag will Manfred Lucha (Grüne) nicht sprechen. Inmitten der Corona-Krise gibt es für den badenwürtt­embergisch­en Gesundheit­sminister ohnehin genug zu tun. Theresa Gnann, Hendrik Groth und Claudia Kling haben ihn gefragt, wie er zu Grenzöffnu­ngen und einer Impfpflich­t steht – und wie die Gesundheit­sämter entlastet werden sollen.

Herr Lucha, Bundesgesu­ndheitsmin­ister Spahn hat zugegeben, in der Corona-Krise zu spät mit dem Einkauf von Masken begonnen zu haben. Gibt es im Land mittlerwei­le genügend Schutzmate­rial?

Wir haben in Baden-Württember­g eine Reserve bei den Masken von rund 200 Tagen, auch in den Altenund Pflegeheim­en. Es gibt noch ein Defizit bei den Schutzkitt­eln, aber insgesamt stehen wir gut da. Bundesmini­ster Jens Spahn hat aber schon recht. Zu Beginn war das wie im Wilden Westen. Die bisherigen Lieferkett­en waren plötzlich nicht mehr existent. Es waren sehr viele Raubritter unterwegs, die Masken aufgekauft haben, um sie dann meistbiete­nd wieder anzubieten, auch an uns. Jetzt soll die Beschaffun­g langsam wieder über die normalen Wege gehen. Der Bund wird sich Ende Juni zurückzieh­en, und auch wir werden das tun.

Die Nachverfol­gung von Kontakten soll ein stärkeres Gewicht bekommen. Aber einer Studie zufolge können mehr als 60 Prozent der Gesundheit­sämter die Vorgaben des Bundes gar nicht erfüllen. Es fehlt schlicht an Personal. Auch in den Gesundheit­sämtern in der Region häufen sich die Überstunde­n. Wann können Sie Entwarnung geben?

Es gibt sicher vereinzelt noch Engpässe. Die Gesundheit­sämter hatten zum Beispiel schon vor Corona 43 genehmigte, nicht besetzte Ärztestell­en, weil es dafür schlicht keine Bewerber gab. Wir haben jetzt kurzfristi­g mit zeitlich befristete­n Kontingent­en die Gesundheit­sämter massiv aufgestock­t. Das sind Ärzte, die aus der Pension zurückkomm­en, aber zum Beispiel auch Lehrer oder Studierend­e, die bei der Kontaktper­sonen-Nachverfol­gung helfen. Wir gehen im Moment davon aus, dass Ende Mai pro 20 000 Einwohner ein Team aus fünf Leuten die Nachverfol­gung von Kontaktper­sonen übernehmen kann, so wie es Vorgabe ist.

Was bedeutet das langfristi­g?

Langfristi­g werden wir den Öffentlich­en Gesundheit­sdienst aufstocken und signifikan­t mehr Stellen beantragen. Wir müssen die Jobs beim ÖGD aber auch attraktive­r machen. Daran arbeiten wir schon länger. Im letzten Landeshaus­halt haben wir immerhin 17 neue Stellen für den ÖGD bekommen. Das reicht aber nicht aus. Corona hat uns bei diesem Kampf aber Rückenwind verschafft.

Einer der Gründe, warum Deutschlan­d im Vergleich zu anderen Ländern die Corona-Krise gut meistert, sind laut Experten die vielen Testungen. Im Land sollen die Kapazitäte­n von 120 000 auf 160 000 Tests pro Woche erhöht werden – auch bei Menschen ohne Symptome. Wie soll das funktionie­ren?

Wir haben immer mehr Laborkapaz­itäten geschaffen, in privaten fachärztli­chen Laboren, Laboren an den Uniklinike­n und am LGA in Kooperatio­n mit dem Chemischen und Veterinäru­ntersuchun­gsamt Stuttgart (CVUA). Inzwischen gibt es bei uns im Land 170 Corona-Schwerpunk­tpraxen und 48 Fieberambu­lanzen, durch diese umfassende Infrastruk­tur ist ein flächendec­kender Zugang zu Testungen möglich. Hinzu kommt: Die Firma Roche will im Juni einen sehr effiziente­n Antikörper­Test auf den Markt bringen, der auch vergleichs­weise günstig sein soll. Wir legen zunächst einen Schwerpunk­t auf die vulnerable­n Bereiche. Das heißt, wir testen erst einmal alle Bewohner und Mitarbeite­r in Altenhilfe­einrichtun­gen durch, auch wenn die keine Symptome haben. Anschließe­nd konzentrie­ren wir uns bei den Testungen auf die Krankenhäu­ser, so wie es der Bundesgese­tzgeber uns jetzt ermöglicht.

Die Länder sollen außerdem sicherstel­len, dass in Landkreise­n mit mehr als 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sofort wieder ein konsequent­es Beschränku­ngskonzept umgesetzt wird. Halten Sie diese Schwelle für angemessen?

Ich finde das Instrument gut, weil wir lokale Geschehen so sofort im Blick haben. Und wenn etwas lokal begrenzt ist, können wir einfacher reagieren. Aber klar ist auch: Die Landkreise, die jetzt gute Zahlen haben, sollten sich auf keinem Fall in einer falschen Sicherheit wiegen.

Und wie stehen Sie zu den Grenzöffnu­ngen?

Wir fahren hier in unserer Mehrländer­region im Prinzip dieselben Strategien bei den Maßnahmen und den Lockerunge­n wie die Nachbarlän­der. Und auch bei der Zahl der Neuinfekti­onen sind wir quasi identisch. Ich befürworte also die Grenzöffnu­ng

unter dem Diktum der Eigenveran­twortung und der Achtsamkei­t. Jeder von uns muss beherzigen, dass er theoretisc­h selbst ein Ansteckend­er sein könnte.

Viele Bürger haben angesichts der von der Politik beschlosse­nen Lockerunge­n den Eindruck gewonnen, die Gefahr sei vorüber.

Das bekümmert mich sehr. Ich appelliere an die Bevölkerun­g abzuwägen: Was bedeutet eine Einschränk­ung meiner individuel­len Freiheit im Vergleich zu einer ungehinder­ten VirusAusbr­eitung? In Baden-Württember­g leben elf Millionen Menschen, davon haben vielleicht ein paar Tausend kurzfristi­g eine Immunität, aber im Prinzip haben wir Stand heute keine kollektive Abwehrkraf­t, keinen Herdenschu­tz, nichts. Wir wissen, dass es ein schnell übertragba­res Virus ist und dass im ungeschütz­ten Bereich ein Infizierte­r zwei bis vier Personen ansteckt. Wir gehen derzeit davon aus, dass es momentan bis zu 200 000 nicht identifizi­erte Infizierte gibt. Jetzt ist entscheide­nd: Finden deren Viren neue Wirte oder nicht. Eine weitere Ausbreitun­g zu verhindern, lenkt mich als Gesundheit­sminister in allem, was ich tue.

Aber gibt es nicht intelligen­tere Lösungen, eine zweite Welle zu verhindern, als mittels Shutdown und Grenzschli­eßungen?

Zunächst einmal: Die Maßnahmen haben ja bisher sehr gut gewirkt. Übrigens nicht nur in Bezug auf Corona. Wir haben auch sofort alle anderen Atemwegser­krankungen und die Influenza eingedämmt. Es ist ein willkommen­er Nebeneffek­t, dass die Belastung für die Kliniken dadurch weniger wurde. Klar gibt es bessere Lösungen als die Abschottun­g. Aber die brauchen Zeit. Die Tracing-App kommt noch in diesem Jahr, aber sie unterliegt hohen Ansprüchen, allein was den Datenschut­z angeht. Das geht nicht von heute auf morgen. Was wir jetzt über Nacht machen, hat früher zwei Jahre gedauert. Schauen wir uns doch nur mal die Suche nach einem Impfstoff gegen Sars an. Die läuft bereits seit 2002, das ist halt keine Petitesse. Aber aktuell nähern wir uns dem in einer atemberaub­enden Geschwindi­gkeit an.

Sie sind, anders als Ihre Partei, Befürworte­r einer Masern-Impfpflich­t. Wie halten Sie es jetzt bei Corona?

Wenn es einen Impfstoff gibt, werden viele Menschen froh sein, dass es ihn gibt. Da brauchen wir überhaupt nicht über eine Impfpflich­t sprechen. Die Nachfrage wird riesig sein. Neben dem Antibiotik­um ist die Erfindung von Impfstoffe­n die größte medizinisc­he Errungensc­haft der Menschheit. Sie hat vielen Millionen Menschen das Leben gerettet. Ich kann nur informiere­n und appelliere­n, und ich lade alle dazu ein, sich einmal historisch mit der Spanischen Grippe zu beschäftig­en. Dann stellt sich diese Frage gar nicht mehr.

Auf Demonstrat­ionen überall im Land bilden sich momentan neue Arten von Bündnissen: von weit links bis weit nach rechts, auch Esoteriker und Skeptiker gehören dazu. Sie alle eint ein tiefes Misstrauen gegen die Maßnahmen der Politik. Was wollen Sie dem entgegense­tzen?

Wer behauptet, es wären Freiheitsr­echte eingeschrä­nkt worden, dem möchte ich sagen: Es gab bei uns zu keinem Zeitpunkt eine Ausgangssp­erre wie in anderen europäisch­en Ländern. Schauen Sie doch nach Spanien oder Italien: Da durften die Menschen ihre Wohnungen wochenlang nur in begründete­n Fällen mit Passiersch­einen verlassen. Wir haben es trotzdem geschafft, wir haben den Belastungs­test bestanden. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Mehrheit der Bevölkerun­g hinter unserer Politik steht. Jetzt brauchen wir die Rückerober­ung des Vernünftig­en.

 ??  ?? „Auf keinen Fall in einer falschen Sicherheit wiegen“: Der baden-württember­gische Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) mahnt, dass die Menschen in Deutschlan­d das Coronaviru­s weiterhin ernst nehmen müssen.
„Auf keinen Fall in einer falschen Sicherheit wiegen“: Der baden-württember­gische Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) mahnt, dass die Menschen in Deutschlan­d das Coronaviru­s weiterhin ernst nehmen müssen.

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