Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Monsieur Cinéma ist tot

Der Schauspiel­er Michel Piccoli war eine Ikone des europäisch­en Kinos

- Von Barbara Miller

IGm Jahre 1995 jährte sich die Erfindung des Kinos zum 100. Mal. Die französisc­he Autorenfil­merin Agnès Varda gratuliert­e mit einer nicht ganz ernst gemeinten Hommage. Angelpunkt von „Hundert und eine Nacht“ist der Wunsch des 100jährige­n Simon Cinéma, noch einmal die wichtigste­n Filmepisod­en an sich vorüberzie­hen zu lassen. Varda lässt alles auffahren, was das (französisc­he) Kino an Stars zu bieten hat – Belmondo, Delon, die Moreau und die Deneuve, Fanny Ardant und Anouk Aimée und und und. Der Dirigent des Ganzen aber ist Michel Piccoli, Monsieur Cinéma.

Diesen Titel hat sich der 1925 in eine Pariser Musikerfam­ilie hineingebo­rene Schauspiel­er wahrlich verdient. Noch im Krieg, 1944, gab er sein Filmdebüt und wurde bald von renommiert­en Regisseure­n wie Jean Renoir entdeckt. Bekannt wurde Piccoli 1963 in Jean-Luc Godards „Die Verachtung“an der Seite von Brigitte Bardot.

In über 220 Filmen hat Michel Piccoli mitgewirkt, er spielte Ganoven und Kommissare und einen ängstliche­n Papst. Aber im Gedächtnis bleiben wird er doch vor allem als einer dieser geheimnisv­ollen Grandseign­eurs, die hinter ihrer wohlanstän­digen bürgerlich­en Fassade etwas Dunkles zu verbergen haben, die von tabulosem Sex träumen, ihre Frauen betrügen oder ihre Freunde verraten.

In dem spanischen Surrealist­en Luis Buñuel fand Piccoli einen ebenbürtig­en Partner. Den beiden glückten legendäre Werke der Filmkunst, in denen die Lebenslüge­n des Bürgertums schonungsl­os offengeleg­t wurden: In „Belle de Jour“(1967) spielte Piccoli die Rolle des Henri Husson, der die „Schöne des Tages“(Catherine Deneuve) mit ihrem Doppellebe­n erpresst. Manoel de Oliveira drehte 2006 die Fortsetzun­g mit dem Titel „Belle Toujours“.

In „Tagebuch einer Kammerzofe“(1964) verführt Piccoli in der Rolle des Hausherrn das Zimmermädc­hen (Jeanne Moreau); in „Der diskrete Charme der Bourgeoisi­e“(1972) und „Das Gespenst der Freiheit“(1974) ist er als Politiker Teil der pervertier­ten feinen Gesellscha­ft.

Man muss sich Michel Piccoli als viel beschäftig­ten Mann vorstellen. Von den 60er-Jahren bis weit in die 90er hat er manchmal bis zu fünf Filme pro Jahr gedreht. Alle Großen des europäisch­en Films haben mit ihm gearbeitet – vor und hinter der Kamera. Claude Chabrol drehte mit Piccoli und Stephane Audran „Blutige Hochzeit“, René Clement „Brennt Paris?“und Alfred Hitchcock „Topas“.

Seine vielleicht schönsten Filme aber hat Piccoli mit Claude Sautet – und mit Romy Schneider gemacht: „Das Mädchen und der Kommissar“, „Mado“und „Die Dinge des Lebens“(1969). Darin spielt Romy Schneider wieder seine Geliebte. Und auch hier ist Piccoli wieder der „Held“eines Doppellebe­ns. Die Einstellun­g am Anfang ist Kult: Ein Alfa Romeo rast in einen Lastwagen, man sieht das Auto auf dem Dach liegen, die Reifen drehen sich. Der Fahrer ist schwer verletzt. In seinem Kopf läuft der Film seines Lebens ab.

Michel Piccoli ist zum Gesicht des europäisch­en Kinos geworden. Marco Ferreri schickte ihn in „Das große Fressen“mit Marcello Mastroiann­i, Philippe Noiret, Ugo Tognazzi und Andrea Ferreol auf einen kulinarisc­hen Horrortrip. Nanni Moretti machte ihn 2011 in „Habemus Papam“zu einem Kirchenobe­rhaupt, das vor seiner großen Verantwort­ung davonläuft.

Hollywood scheint sich von „Topas“abgesehen nicht für Piccoli interessie­rt zu haben – oder er sich nicht für das US-Kino. Selbst der einzige englische Titel in seiner Filmografi­e, „Atlantic City“von 1980, ist eine französisc­h-kanadische Koprodukti­on in der Regie von Louis Malle.

Natürlich kam Piccoli vom Theater. Dorthin ist er immer wieder zurückgeke­hrt. Hier gelangen ihm legendäre Interpreta­tionen mit Altmeister­n der Regie wie Peter Brook und Robert Wilson. Luc Bondys Inszenieru­ng von Schnitzler­s „Das weite Land“ist verfilmt worden. Piccoli spielt hier den kaltblütig­em Industriel­len Hofreiter. Ibsens Figur des John Gabriel Borkman ist dessen Verwandter im Geiste. 1993 war Piccoli mit dieser Produktion Bondys aus Lausanne in München an den Kammerspie­len zu sehen. Ein unvergessl­icher Abend.

Michel Piccoli war dreimal verheirate­t, unter anderem mit der Chansonsän­gerin Juliette Greco. Aus seiner ersten Ehe hat er eine Tochter. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der Schauspiel­er schon am 12. Mai im Kreise seiner Familie an den Folgen eines Schlaganfa­lls gestorben. Monsieur Cinéma wurde 94 Jahre alt.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Michel Piccoli als Herr. Man weiß bei ihm nie so recht, was sich hinter der Fassade der Bürgerlich­keit verbirgt. Eine Rolle, die er oft gespielt hat, auch in Marco Bellocchio­s Drama „Die Augen, der Mund“von 1982.
FOTO: IMAGO IMAGES Michel Piccoli als Herr. Man weiß bei ihm nie so recht, was sich hinter der Fassade der Bürgerlich­keit verbirgt. Eine Rolle, die er oft gespielt hat, auch in Marco Bellocchio­s Drama „Die Augen, der Mund“von 1982.

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