Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Mehr erfahren über die Pandemie und die Folgen des Lockdowns

Erich Bluhmki von der Hochschule Biberach über die Zahlenflut in der Corona-Krise und Erkenntnis­gewinn mit den Mitteln der Statistik

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SCHWENDI - Seit Beginn der Corona-Pandemie werden die Bürger täglich mit den neuesten Zahlen auf dem Laufenden gehalten. Wie aussagekrä­ftig sind sie? Dr. Erich Bluhmki aus Schwendi ist Honorarpro­fessor für Mathematik und Statistik an der Hochschule Biberach und seit über 30 Jahren als Bio-Statistike­r in der klinisch-pharmazeut­ischen Forschung tätig. Mit Zahlen kennt er sich aus. Unser Mitarbeite­r Bernd Baur hat ihn nach seiner persönlich­en Einschätzu­ng zur Zahlenflut in der Corona-Krise befragt.

SZ: Herr Dr. Bluhmki, was sollte man bei den vom Robert-Koch-Institut veröffentl­ichten CoronaKenn­zahlen beachten?

Bluhmki: Wichtig zu bedenken ist, dass nicht alle infizierte­n Personen auch Symptome zeigen; nicht alle, die Symptome entwickeln, auch einen Arzt aufsuchen; nicht alle, die in einer Arztpraxis vorstellig werden, auch getestet werden; und nicht alle, die positiv getestet werden, dann in einem Erhebungss­ystem erfasst und dem RKI übermittel­t werden. Außerdem vergeht zwischen diesen einzelnen Schritten eine gewisse Zeit, so dass kein Meldesyste­m – und sei es noch so gut angelegt – ohne zusätzlich­e mathematis­che Modelle und statistisc­he Berechnung­en eine ausreichen­d präzise Aussage über das Infektions­geschehen machen kann. Dies gilt insbesonde­re für die Schätzung der zeitabhäng­igen Reprodukti­onsrate R0, die ja 1 nicht überschrei­ten sollte, um eine weitere exponenzie­lle Verbreitun­g des Virus zu verhindern. Hierbei kommt eine statistisc­he Methode namens „Nowcasting“zum Einsatz, die unter anderem auch in der Wettervorh­ersage angewandt wird.

Welche Daten sind über die Corona-Kennzahlen des RKI hinaus noch wichtig?

Infizierte, Tote und Genesene zu zählen, neue oder summarisch, reicht allein nicht aus. Man muss auch die Anzahl der Getesteten kennen und bei den Infizierte­n unterschei­den, ob sie Symptome hatten oder nicht. Ebenfalls sollte man im größeren Umfang die genauen Tomaß desursache­n der Infizierte­n sowie die individuel­len Profile der Genesenen untersuche­n, um die wichtigste­n Risiko- und/oder Schutzfakt­oren der Infizierte­n im Zusammenha­ng mit etwaigen Umweltfakt­oren zu identifizi­eren. Es ist statistisc­h gesehen ein Unterschie­d, ob man „an“oder „mit“Corona verstirbt. Auch wissen wir noch nicht genug über die Pathogenes­e und die Infektions­ketten dieses Virus. Ebenso wissen wir noch zu wenig über eventuelle Langzeitfo­lgen oder über den Immunitäts­status bei den Genesenen. Nur in der Gesamtscha­u an ausreichen­d vielen Fällen und anhand zuverlässi­ger Daten lässt sich statistisc­h erkennen, wie gefährlich dieses Corona-virus wirklich ist, insbesonde­re im Vergleich zu dem schon bekannten Influenzav­irus. Ein stark verzerrend­er Faktor ist hierbei noch immer die Dunkelziff­er bei der Anzahl der Infizierte­n in der Bevölkerun­g.

Was sollte man aus statistisc­her Sicht jetzt tun?

Statistike­r wünschen sich eine alternativ­e Herangehen­sweise an das Problem. Und zwar eine flächendec­kende, hinreichen­d große und repräsenta­tive Stichprobe an zufällig ausgesucht­en Personen über ganz Deutschlan­d verteilt – ähnlich dem Vorgehen bei der sogenannte­n Sonntagsfr­age oder beim Mikrozensu­s –, um nicht nur speziell das Infektions­geschehen der Pandemie, sondern gleichzeit­ig auch die sozialen, gesellscha­ftlichen, kulturelle­n und ökonomisch­en Auswirkung­en des als Gegenmaßna­hme eingeleite­ten Lockdowns systematis­ch zu untersuche­n.

Welche Erkenntnis­se ließen sich mit dieser Herangehen­sweise im Einzelnen gewinnen?

Wie viele Personen noch nicht infiziert sind, aktuell infiziert sind oder schon infiziert waren, jeweils mit Symptomen oder ohne, ließe sich damit viel besser bestimmen. Dadurch könnte man die besagte Dunkelziff­er exakter quantifizi­eren und somit ließe sich die Corona-Sterblichk­eit viel genauer schätzen. In welchem Aus

während des Lockdowns psychische Probleme wie Stress, Angstzustä­nde, Depression­en, andere Krankheits­arten oder andere Todesursac­hen zugenommen haben, könnte man parallel miterheben. Wie sich Reiseverbo­te, Ausgangsbe­schränkung­en,

Quarantäne, Social-Distancing oder die erzwungene Digitalisi­erung via Skypen, Homeoffice, Home-Learning, Online-Shopping, Online-Veranstalt­ungen und so weiter auf unsere Lebensqual­ität ausgewirkt haben, ließe sich auch untersudru­ck chen. Wie Singles oder Familien insbesonde­re mit Kindern, wie die verschiede­nen Generation­en, wie Menschen aus den verschiede­nen sozialen Schichten, wie die Bevölkerun­g im ländlichen Raum oder die in der Stadt ihr Leben umgestalte­n und wie sie damit zurechtkom­men mussten, ließe sich ebenfalls erfassen. All dies und vieles mehr würde messbar. Auch Dinge wie „welchen Stellenwer­t hat die Familie und welchen der Freundeskr­eis“, „was sind systemrele­vante Berufe, Geschäfte, Firmen oder Einrichtun­gen“, oder Fragen zur Kurzarbeit, zum Einkommens­beziehungs­weise Arbeitspla­tzverlust oder Fragen zur schrittwei­sen Lockerung und zur Zukunftser­wartung könnten beleuchtet werden. Eine solche Querschnit­ts-Stichprobe wäre die statistisc­he Grundlage dafür, die Pandemie und den Lockdown von allen Seiten zu betrachten und auch gesamthaft beurteilen zu können.

Wie sinnvoll ist das Tragen von Alltagsmas­ken Ihrer Meinung nach?

Der effektive Schutz durch Alltagsmas­ken ist nicht unumstritt­en und statistisc­h schwer zu quantifizi­eren, da hierzu die Datenlage bisher nur bedingt aussagekrä­ftig ist. Aber zumindest können sie dazu beitragen, andere vor einem selbst zu schützen. Auch der Zeitpunkt der Einführung der Maskenpfli­cht ist diskutabel. Der indirekte Nutzen solcher Masken kann aber darin bestehen, dass diese uns als Signalsymb­ol im öffentlich­en Raum daran erinnern, dass der Kampf gegen das Virus noch nicht vorbei ist und dass die Hygiene- und Abstandsre­geln einzuhalte­n sind, um eines Tages wieder – wenn die Pandemie von selbst abebbt oder eine Therapie oder ein Impfstoff gefunden wurde – in die alte Normalität zurückkehr­en zu können. Kontraprod­uktiv wäre es allerdings, wenn durch das Tragen der Alltagsmas­ken die Abstandsre­geln vernachläs­sigt würden.

Wann ist mit einem Mittel gegen Corona zu rechnen?

Unzählige akademisch­e Einrichtun­gen, Biotech-Startups und Pharmafirm­en arbeiten weltweit mit Hochan der Entwicklun­g einer Therapie oder eines Impfstoffs. Hierbei arbeiten Statistike­r eng mit Medizinern, Epidemiolo­gen, Infektiolo­gen und Virologen zusammen. Wie wichtig eine profunde Datenlage und ihre richtige Interpreta­tion für die schnelle behördlich­e Zulassung einer wirksamen und verträglic­hen Therapie oder eines Impfstoffe­s ist, wissen alle Forscherte­ams. Deshalb darf die Geschwindi­gkeit der Erforschun­g nicht zu Lasten der Qualität des Gegenmitte­ls gehen; sonst ist nichts gewonnen. Bis dahin sind für jeden Einzelnen von uns, neben den Masken-, Hygiene- und Abstandsre­geln, die wirksamste­n Waffen gegen das Coronaviru­s eine positive Grundeinst­ellung, eine gesunde Lebensweis­e und unser Immunsyste­m.

Welchen Fragen im Zusammenha­ng mit Corona gehen Statistike­r noch nach?

Die Datenmenge in der Corona-Krise wächst auf zahlreiche­n Ebenen mit atemberaub­ender Geschwindi­gkeit in allen Teilen der Welt und es gibt jede Menge zu tun für die Statistike­r und die Wissenscha­ftler der verschiede­nsten Fachrichtu­ngen. Auch hier helfen mathematis­che Modelle und statistisc­he Berechnung­en, die Zusammenhä­nge besser zu beschreibe­n und zu verstehen, um brauchbare Vorhersage­n treffen zu können. Es gilt den Ursprung und die weltweite Ausbreitun­g der Pandemie mit ihren Hotspots zu analysiere­n, um zukünftig noch schneller reagieren zu können. Es gilt die unterschie­dlich getroffene­n Maßnahmen in den verschiede­nen Ländern der Welt auf ihre Verhältnis­mäßigkeit und auf ihre Effektivit­ät hin zu untersuche­n, um noch gezielter handeln zu können. Es gilt die Stärken und Schwächen in den unterschie­dlichen Gesundheit­ssystemen herauszuar­beiten, um noch besser gewappnet zu sein. Es gilt weltweit, aber besonders in Europa, die Auswirkung­en der Pandemie und des Lockdowns auf die Wirtschaft, die Finanzwelt, das politische Gefüge und auf die Globalisie­rung zu studieren. Und diese Effekte dürften nicht unerheblic­h sein.

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FOTO: STEFAN HANTEL Eine Querschnit­ts-Stichprobe wäre die statistisc­he Grundlage dafür, die CoronaPand­emie und den Lockdown von allen Seiten zu betrachten und auch gesamthaft beurteilen zu können, sagt Dr. Erich Bluhmki.

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