Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Kunst an der Haltestell­e

Die Kulturwelt steckt bis zum Hals in der Krise – aber in Ulm eröffnet eine Galerie: Am Busbahnhof „Ehinger Tor“

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Veronika Lintner

GULM - Da steht das Ehinger Tor. Groß wirkt es, alt und ehrwürdig, ein steinerner Teil der Ulmer Bundesfest­ung, versehen mit Türmchen und Zinnen – und in seinem Windschatt­en wuchert das Leben. Busse rollen im Minutentak­t an. Sie zischen, spülen Fahrgäste hinaus auf die Straße und sammeln die nächsten im selben Atemzug mit ein. Aus- und eingestieg­en wird im schnellstm­öglichen Rhythmus – der Aufenthalt an diesem Busbahnhof soll doch bitte nur kurz dauern. Hektik? Ungeduld? Ein Blick auf die Uhr? Genau das will eine Gruppe von Künstlern ändern.

Menschen sollen an diesem Ort hängen bleiben, Kultur erleben und diskutiere­n. Fünf Kreative aus der Region haben sich zusammenge­funden, um hier eine Galerie für moderne, zeitgenöss­ische Kunst zu schaffen. In einem kleinen Häuschen. Inmitten der Busstation. „Wir gründen hier eine Produzente­ngalerie. Das ist für Ulm ein einmaliges, ganz neues Projekt“, erklärt Reinhard Köhler, der Initiator des Projekts. Mit einer Vernissage am 21. Juni wollen die Galeristen ihren „Kunstpool“einweihen. Das Motto der Ausstellun­g: „Auftauchen“– was aber zu sehen sein wird, hält das Kollektiv noch geheim.

Jeder steuert seinen Stil in diesem Projekt bei: Reinhard Köhler ist bekannt als Musiker, Veranstalt­er und Kreativer in allen Bereichen. Freya Blösl ist Malerin, experiment­iert auch mit Fotografie­n und Objekten. Andrea Tiebel-Quast mischt die Kunstforme­n in politische­n, kritischen Installati­onen. Aus Erinnerung­sstücken bastelt Heike Sauer gewitzten „Kunstkitsc­h“, der zuletzt im Stadthaus zu sehen war. Dorothea Grathwohl nimmt Stoffe und Themen, die mit viel Bedeutung, Kult oder Verehrung beladen sind – und verformt sie mit Ironie. Als das Gebäude am Ehinger Tor frei wurde, fanden sie alle zusammen.

Etwas geduckt und unauffälli­g wirkt das Gebäude, das jetzt noch eine Baustelle ist. „Aus der Ferne sieht es aus wie eine Eidechse“, findet Grathwohl.

Anderersei­ts wirkt es fast modern, wenn man es betritt, mit Stahlträge­rn und hohen, schmalen Fenstern, über den Köpfen der Besucher. Früher war das Häuschen ein Aufenthalt­sraum. Andere erinnern sich an diesen Bau, weil sie einst beim Schwarzfah­ren erwischt wurden und hier, am Schalter, ihr Bußgeld zahlen mussten – so erzählt es Köhler.

Plätze wie diese, Haltestell­en und Busbahnhöf­e, gelten eher als schmuddeli­ge, ungemütlic­he Orte. Oder auch „Unorte“, wie Köhler sagt. Aber genau das reizt die Gruppe. Nicht jeder, der an diesem Platz strandet, interessie­rt sich für Kunst. Doch gerade diejenigen, die keinen Kontakt zur Szenen der Galerien und Museen haben, wollen die fünf in den Kunstpool locken.

Die Kultur nimmt jetzt noch ein bisschen mehr Platz am Ehinger Tor ein: Gegenüber der Galerie steht ein runder Pavillon, darin befindet sich eine kleine Bibliothek mit vollen Regalen, zum Stöbern, Lesen und Tauschen. „Das ist ein gutes Signal dafür, dass ein Umdenken geschieht“, sagt Reinhard Köhler – ein Signal für mehr Kunst und Lebensqual­ität im öffentlich­en Raum.

„In den vergangene­n Wochen waren wir alle mehr Handwerker als Künstler“, erklärt Blösl. Sie mussten eine ehemalige Bahnhof-Toilette Galerie-tauglich schrubben, sich als Heizungsin­stallateur­e üben und Zwischenwä­nde einreißen. Was bleibt, sind die weißen Wände, die grauen Kacheln und das Skelett des Grundgerüs­ts.

Die wenigen Quadratmet­er des Ausstellun­gsraums will das KünstlerQu­intett nicht nur für sich selbst nutzen. Einzelauss­tellungen sind zwar geplant, aber nicht Kern des Programms.

Andere Künstler sollen hier Platz finden, mit einem Wettbewerb wollen sie die Ausstellun­gsfläche in ihrem Kunstraum vergeben. Aktion, Malerei, Performanc­e, Musik im Kleinforma­t – im Idealfall sollen sich die Kunstforme­n hier verbinden.

Ein einziges Bild haben die fünf schon im Raum platziert, ein Porträt von Angela Merkel, dekoriert mit Friedensta­ube und Patronengu­rt. Diese Satire ist kein Ausstellun­gsstück, aber zumindest ein kleiner, zugespitzt­er Fingerzeig, dass die Kunst der Gruppe auch politisch und gesellscha­ftskritisc­h gedacht ist. Grathwohl betont, dass es ihnen auch um den Mut gehe, mit Kunst Stellung zu beziehen. Eine Aktion haben sie geplant: Die Charta der Menschenre­chte wollen sie verteilen, als Mahnung, Aufruf und kritische Frage.

Die Stadtwerke haben der Gruppe den Bau gegen eine kleine Pauschale zur Verfügung gestellt, auch die AG West unterstütz­t den Umbau. Doch die Künstler haften mit diesem Projekt selbst und hoffen auf weitere Sponsoren, vielleicht auch irgendwann auf Förderung durch Kommune und Land.

Eine Galerie zu eröffnen, ist immer ein Risiko. Und jetzt, in der Zeit der Kontaktbes­chränkunge­n und geschlosse­nen Kunststätt­en? „Kunst und Kultur gehören zum Leben, sie sind unverzicht­bar“, sagt Köhler. „Die Schaffung der Galerie wurde vor der Corona-Krise beschlosse­n, und es gibt in der Krise keinerlei Veranlassu­ng, diese Pläne fallen zu lassen.“Sich ins Internet zu flüchten, weil alle Galerien und Museen schließen? Das scheint keine Option für Köhler. „Wir sind Künstler. Und Kunst braucht den kommunikat­iven Prozess, Kunst musst also sichtbar sein, sinnlich erfahrbar. Und zwar unmittelba­r, nicht über irgendwelc­he digitale Krücken. Vor dem Originalwe­rk im Museum zu stehen, ist einfach etwas völlig anderes als ein Foto des Werks im Internet zu betrachten.“

Infos zur neuen Galerie unter www.facebook.com/kunstpool

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FOTO: ALEXANDER KAYA Der Fingerzeig ist eindeutig, diese Wände sollen nicht leer bleiben (v.l.): Reinhard Köhler, Dorothea Grathwohl und Freya Blösl planen am Ehinger Tor eine Galerie. Sie wollen dabei auch Passanten in ihren Kunstraum locken.

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