Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Dem unsichtbaren Virus auf der Spur
Für das Gesundheitsamt ist die Nachverfolgung der Kontaktpersonen ein Kraftakt
GBIBERACH - Mit den stufenweisen Lockerungen der Corona-Beschränkungen rückt die Nachverfolgung der Kontaktpersonen wieder stärker in den Fokus. Für die Mitarbeiter im Biberacher Gesundheitsamt ist das ein Kraftakt. Mit viel Mühe fügen sie die Infektionsketten zusammen und versuchen, diese zu unterbrechen. Die Arbeit der Ermittler – so werden sie im Landratsamt genannt – erfordert viel Fingerspitzengefühl.
„Guten Tag, hier ist das Gesundheitsamt. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie positiv auf das Coronavirus getestet wurden“– die Worte hat Lars-Oliver Seidel so oder in ähnlicher Weise schon häufiger ins Telefon gesprochen. „Zu Beginn sind die Menschen zusammengezuckt, aber mittlerweile nimmt es der Großteil relativ gelassen auf“, erzählt der 50-Jährige, der eigentlich im Veterinäramt angestellt ist. „Viele sorgen sich aber, dass sie möglicherweise einen Risikopatienten angesteckt haben.“Einige machten sich auch Vorwürfe: „Schuldzuweisungen gibt es aber keine. Schließlich steckt sich ja keiner freiwillig an.“
Lars-Oliver Seidel ist einer von insgesamt 33 sogenannten Ermittlern im Gesundheitsamt. Ihr Ziel in enger Zusammenarbeit mit sechs Ärzten: Die Infektionsketten nachvollziehen und das unsichtbare Virus weiter eindämmen. „Wir haben diese Arbeit in der Vergangenheit bei anderen Erkrankungen wie Masern oder Tuberkulose schon gemacht“, sagt die Leiterin des Gesundheitsamts, Dr. Monika Spannenkrebs. „Jetzt findet unsere Arbeit eine größere öffentliche Beachtung.“Und noch etwas ist anders: die Quantität. „Wir wurden von einem Tsunami überrollt“, erläutert sie.
Vor diesem Hintergrund habe man die Zahl der Mitarbeiter aufgestockt und entsprechend geschult: „Allein das Computersystem ist sehr anspruchsvoll.“Der Lockdown habe geholfen, Zeit für den Aufbau der Strukturen zu gewinnen. „Das war ein Kraftakt“, beschreibt Spannenkrebs, die seit 2014 das Gesundheitsamt leitet. Ein Teil des Containment-Personals stammt aus dem Gesundheitsamt oder aus anderen Ämtern und Dienststellen des Landratsamts. Darüber hinaus hat der Kreis Biberach eine Soziologie-Studentin als ContainmentScout zugeteilt bekommen. „Containment“ist das englische Wort für „Eindämmung“. Die Strategie und entsprechende Maßnahmen waren von der Bundesregierung angewiesen worden.
„Unsere Arbeit ähnelt am Anfang der von polizeilichen Ermittlungen“, sagt die Ärztin. Nachdem ein positiver
Laborbescheid eingegangen ist, kontaktiert ein Mitarbeiter die Person: „Wir müssen erst einmal die Kontaktdaten herausfinden, beispielsweise übers Telefonbuch oder den Hausarzt.“Im Gespräch erkundigt sich der Mitarbeiter nach dem Gesundheitszustand inklusive der auftretenden Symptome, erläutert die Hygienemaßnahmen und informiert über den Ablauf der Quarantäne: „Mal dauert das Gespräch fünf Minuten, mal über eine halbe Stunde. Das kommt immer darauf an, wie viele Fragen die Betroffenen haben.“
Zentraler Bestandteil ist die Abfrage der Kontaktpersonen. „Während des Lockdowns war das natürlich überschaubar, weil die Menschen ihre Kontakte stark reduziert haben“, lobt Spannenkrebs. Mit dem Aufkommen der ersten Fälle in der Region Anfang März sei das anders gewesen: „Der eine war noch im Gesangsverein, der andere auf dem Fußballplatz. Da kommen schnell Dutzende Kontaktpersonen zusammen.“Wie sich die Lockerungen auf die Infektionsketten auswirken? Das kann sie derzeit nicht im Detail abschätzen. Aber: „Sie dürften wieder länger werden.“Für die Ermittler steigt damit der Aufwand. Auch, weil es mehr Telefongespräche mit einem Corona-Patienten gibt. So erkundigt sich das Gesundheitsamt in Abständen immer wieder über die Symptomatik und den Verlauf.
Besonders im Blick hat das Gesundheitsamt nach einer Empfehlung des Robert-Koch-Instituts die „Face to Face“-Kontakte, die 15 Minuten oder länger andauern. Ob und wer alles in Quarantäne muss, sei eine Frage der Abwägung, erläutert Spannenkrebs. „Das ist eine gemäß der Richtlinien des Robert-Koch-Instituts im Einzelfall zu treffende Entscheidung. Es geht natürlich um Infektionsschutz, aber auch immer um einen Freiheitsentzug.“Ihre ärztlichen Kollegen und sie werden insbesondere dann eingeschaltet, wenn es einen Corona-Ausbruch in einer Klinik oder in einem Pflegeheim gibt: „Das sind komplexe Fälle, vor allem auch was die beruflichen Kontakte und vulnerablen Gruppen angeht.“
Überwiegend spielt sich die Arbeit der Ermittler am Schreibtisch ab. Gearbeitet wird im Schichtsystem, sodass Ansprechpartner zwischen 7 und 19.30 Uhr erreichbar sind – und zwar auch am Wochenende und an Feiertagen. Die Spätschicht übernehmen in der Regel die Ärzte, um im Fall eines größeren Corona-Ausbruchs wie zum Beispiel in einem Pflegeheim schnell reagieren zu können.
„Das Virus ist tückisch“, sagt Spannenkrebs. Die lange Inkubationszeit und Verläufe mit milden bis keinen Symptomen machen die Nachverfolgung der Kontakte so schwer. Manchmal bemerken Betroffene gar nicht, dass sie das Virus in sich tragen und damit andere anstecken können. In Anbetracht dessen dürfte den Ermittlern die Arbeit so schnell nicht ausgehen, auch nicht mit Einführung der Corona-Tracing-App. „Die Arbeit unseres Teams kann letztlich auch durch eine App nicht ersetzt werden“, sagt Spannenkrebs.
„Trotz aller Herausforderungen haben wir eine gute Stimmung im Haus“, sagt die Ärztin. „Es bringt uns auch nicht weiter, wegen der hohen Arbeitsbelastung zu jammern. Jeder hat in der Corona-Krise sein Päckchen zu tragen.“Das sieht auch Lars-Oliver Seidel so: „Wir sind hier alle mit Herz und Seele dabei.“Kraft gebe ihm auch die Tatsache, gegen das neuartige Coronavirus etwas ausrichten zu können: „Durch die Kontaktnachverfolgung können wir aktiv mithelfen, das Virus einzudämmen.“Die Ermittler seien ein Stück weit die Speerspitze im Kampf gegen Corona, der sicherlich noch viele Monate dauern dürfte.