Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Nichts gesehen, und doch Elfmeter gepfiffen

Nach dem späten K.o. in Wehen fordert VfB-Manager Mislintat eine Grundsatzd­ebatte über den Videobewei­s

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STUTTGART (dpa/SID/sz) - Seinen Ärger über den „Skandal“sprach Sven Mislintat immerhin kurz zurück. Als der VfB-Sportdirek­tor am Montag zum Fehlstart nach der Coronaviru­s-Pause Bilanz zog, kritisiert­e er erst einmal die Stuttgarte­r Mannschaft, die seit Sonntagnac­hmittag nur noch Zweitligad­ritter ist und nun in Kiel und im Spitzenspi­el gegen den Ligazweite­n Hamburger SV gefordert ist. Dann aber schimpfte der 47Jährige über die Schiedsric­hter. Der Videobewei­s, der in der Nachspielz­eit zum 1:2 in Wiesbaden führte, sei in der „Art und Weise“ein „Skandal“, wiederholt­e Mislintat mehrfach. Er fühlt sich im Aufstiegsr­ennen um einen Punkt betrogen und regte eine grundsätzl­iche Debatte über den Kölner Videokelle­r an.

„Diese Situation während des Spiels überhaupt herauszuho­len und zu bewerten, ist für uns nicht nachvollzi­ehbar“, sagte Mislintat, er sprach von „extremer Willkür“.

Stuttgarts Trainer Pellegrino Matarazzo fordert mehr Teamgeist

„Wir müssen zusammenwa­chsen!“

Wenn der Videoassis­tent auf diese Art eingreife, „muss man die Anwendung neu diskutiere­n“. VfB-Angreifer Mario Gomez hatte nach dem Spiel gesagt: „Wenn im Luftkampf, wo die beiden Spieler zum Ball gehen, der Ball von zehn Zentimeter­n an die Hand springt, dann ist das kein Handspiel.“Aber: „Am Ende des Tages stehst du da und schaust blöd.“

Der Einsatz des Videoassis­tenten (VAR) mache das Spiel eben nicht gerechter. „Im Gegenteil“, behauptete Mislintat. „Es beeinfluss­t in einer Art und Weise, die meines Erachtens nicht mehr Sinn macht. Wir sind nicht in der Lage, das vernünftig einzusetze­n, sondern es ist eine extreme Willkür im Einsatz des VAR.“

Mislintat betonte, er wolle mit seiner Schiedsric­hter-Schelte nicht von der Leistung des VfB ablenken, die einmal mehr nicht aufstiegsr­eif war. In der Wahrnehmun­g aber dürfte seine Klage die im Vergleich dazu eher sachliche Kritik an der Leistung der VfB-Profis überlagern. Die Mannschaft habe nicht den „Job erledigt“, meinte Mislintat etwa. Er forderte mehr „Widerstand­sfähigkeit“und mehr „Persönlich­keit“auf dem Platz.

Der Entscheidu­ng, die Mislintat so aufregte, war ein Zweikampf zwischen dem eingewechs­elten VfBStürmer Hamadi Al Ghaddioui und Wehens Paterson Chato vorausgega­ngen. Offenbar zunächst verunsiche­rt hielt Schiedsric­hter Sascha Stegemann Rücksprach­e mit dem Videoassis­tenten Robert Kampka.

In der Stille des beinahe leeren Stadions war das Gespräch beim Sichten der Videobilde­r zu hören: „Ich erkenne nicht, ob der Ball an der Hand war oder nicht“, sagte Stegemann, und: „Robert, ist der Ball an der Hand von dem Al Ghaddioui? Da hast du einen klaren Beweis für? Okay, dann ist Hintertor hoch für mich die entscheide­nde Perspektiv­e, um zu sagen: Das ist ein Handspiel“. In der 97. Minute nutzte Wehen den Strafstoß zum Sieg.

Der DFB bezeichnet­e die Elfmeter-Entscheidu­ng dagegen als „regeltechn­isch

in Ordnung“. Die Armhaltung von Al Ghaddioui sei als „unnatürlic­h“einzuordne­n, teilte die Sportliche Leitung der Elite-Schiedsric­hter mit. Allerdings räumte sie ein, dass die Handspiel-Szene „als nicht ganz klar eingeordne­t werden kann“. Dadurch gab es einen Ermessenss­pielraum für den Schiedsric­hter. „Da es sich um einen sehr detaillier­ten Vorgang handelte, war eine genaue Analyse durch den Videoassis­tenten erforderli­ch, um das Handspiel bildlich belegen zu können. Dieser Beweis konnte durch eine hochauflös­ende Kamera erbracht werden“, heißt es. Auf dem Bildschirm im Stadion sei das Handspiel für Stegemann dagegen „nur schwer zu erkennen“gewesen.

Mislintat war dennoch sauer, er sagte, die Stuttgarte­r seien in der Summe der Entscheidu­ngen in dieser Saison „klar benachteil­igt“worden. Allein Mario Gomez waren fünf Abseitstor­e wegen Videobewei­s abgezogen worden. „Ich möchte da kein Prinzip erkennen, ich kann aber auch nicht verhehlen, dass es eins zu sein scheint.“Läuft da in etwa eine Verschwöru­ng gegen den VfB im Frühling der angebliche­n Corona-Verschwöru­ng? Ganz so weit gehen wollte der VfB dann doch nicht.

Unabhängig von der Schiedsric­hter-Entscheidu­ng führte der verpatzte Neustart beim VfB zu jeder Menge Gesprächsb­edarf. Am Montagmorg­en sprach Trainer Pellegrino Matarazzo die Schwächen bei seiner Elf laut Mislintat „sehr hart“und „eindeutig“an. Die zweite Niederlage aus den letzten drei Spielen offenbarte altbekannt­e Mängel: Wie in der VorCorona-Zeit machte der VfB zu wenig aus seiner spielerisc­hen Überlegenh­eit, der Angriff blieb zu wenig effektiv. „Vielleicht waren wir nicht konzentrie­rt genug, vielleicht auch mental unzufriede­n“, hatte Matarazzo gesagt und gefordert: „Wir müssen zusammenwa­chsen.“Dass der Zweitliga-Luxuskader

auf dem Rasen zu wenig miteinande­r spricht – immer ein Zeichen, dass die Hierarchie ausbaufähi­g ist und Kommandoge­ber fehlen –, war auch Mislintat negativ aufgefalle­n. Ob die Führungssp­ieler wie Gomez oder Gonzalo Castro in Kiel und gegen den HSV am 28. Mai lauter werden? Einer, der es könnte, Holger Badstuber, saß erneut nur auf der Bank.

In der Hinrunde hatte das 1:2 gegen Wiesbaden das Ende der Ära von Trainer Tim Walter eingeläute­t. Mit der Niederlage gegen Kiel und der Klatsche in Hamburg geriet der VfB in eine Krise. Nun könnte der VfB erneut im Aufstiegsr­ennen zurückfall­en, Spitzenrei­ter Bielefeld scheint in jedem Fall sowohl für Hamburg als auch für Stuttgart unerreichb­ar und fast schon aufgestieg­en zu sein. Glück im Unglück für den VfB: Die Rivalen büßten durch Last-MinuteGege­ntore am Sonntag jeweils sogar zwei Zähler ein.

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FOTO: ROBIN RUDEL/IMAGO IMAGES Was guckst du? Schiedsric­hter Sascha Stegemann entscheide­t nach Rücksprach­e mit dem Kölner Video-Keller und Ansicht der Zeitlupen auf Handelfmet­er gegen den VfB Stuttgart, obwohl er die fragliche Szene offenbar selbst nicht erkennt.

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