Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Der Aluhut – Symbol der Verschwöru­ngstheoret­iker

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Man könnte es einfach ignorieren. Man könnte ignorieren, dass Attila Hildmann, halb prominente­r Berliner Imbissbesi­tzer und Autor veganer Kochbücher, über seinen Nachrichte­nkanal auf dem Dienst Telegram knapp 43 000 Abonnentin­nen und Abonnenten etwas von „Bücherverb­rennungen“und einer gigantisch­en globalen Impfversch­wörung erzählt. Man könnte jetzt, da eine Jahrhunder­tseuche weltweit wütet, meinen, dass es bedeutend größere Probleme gibt als den Mannheimer Sänger Xavier Naidoo – der seit Monaten das Schaudermä­rchen verbreitet, mächtige Menschen fügten ihrem Körper ein Mittel namens Adrenochro­m ein, das aus dem Blut entführter Kinder gewonnen wird. Man könnte auch über den Wirtschaft­sprofessor Stefan Homburg aus Hannover einfach hinwegsehe­n, der über seinen Twitter-Account verbreitet, in Deutschlan­d gehe es heute zu wie 1933, im Jahr der Machtergre­ifung Adolf Hitlers.

Aber es schwappt ja längst aus den Telegram-Gruppen und aus den Twitter-Diskussion­en über, in die Familiench­ats auf WhatsApp, in die Gespräche an der Bushaltest­elle, auf die „Corona-Demos“, bei denen Zehntausen­de Menschen in Deutschlan­d gegen die Kontaktbes­chränkunge­n zur Eindämmung des Coronaviru­s protestier­en. Die Geschichte­n von der globalen Verschwöru­ng angeblich allmächtig­er finsterer Eliten gegen das treuherzig­e Volk bekommen in dieser Krisenzeit neues Publikum, sie verbreiten sich weiter – egal, ob Politiker oder Journalist­en sich damit auseinande­rsetzen oder nicht. Deswegen ist Verstehen wohl die bessere Option. Verstehen, was da gerade los ist.

Das Problem beginnt schon beim Namen. „Verschwöru­ngstheorie­n“nennen viele diese Erzählunge­n. Ein Wort, gegen dessen Verwendung Michael Blume seit Jahren anredet. Blume ist Religionsw­issenschaf­tler, CDU-Mitglied und seit 2018 Beauftragt­er des Landes Baden-Württember­g gegen Antisemiti­smus. Wer „Verschwöru­ngstheorie­n“sage, der sei deren Verbreiter­n schon auf den Leim gegangen, meint Blume. „Theorie, das klingt nach einer wissenscha­ftlichen Vermutung oder doch zumindest nach einem interessan­ten Gedankenex­periment“, sagt er und ergänzt, der Ausdruck sei sprachlich „im gleichen Rahmen wie Darwins Evolutions­theorie oder Einsteins Relativitä­tstheorien“. Blume spricht diese Mahnung zur sprachlich­en Genauigkei­t in der zweiten Folge eines Podcasts aus, den er seit Ende März aufnimmt, 15 Episoden sind inzwischen erschienen. Der Name: „Verschwöru­ngsfragen“. Eigentlich hatte Blume vor Monaten beschlosse­n, sich zurückzuha­lten auf digitalen Kanälen, hatte sich auf Facebook abgemeldet und seinen Twitter-Account stillgeleg­t. Dann aber kam die Covid-19-Pandemie. Die Horrorstor­ys von Zwangsimpf­ungen und Neuer Weltordnun­g verbreitet­en sich in den digitalen Netzwerken – und Blume meldete sich zurück.

Michael Blume spricht lieber vom „Verschwöru­ngsglauben“, dem Menschen wie Hildmann und Naidoo anhingen. Die Geschichte­n, die sie verbreiten, nennt er „Verschwöru­ngsmythen“. Vor allem in Zeiten des Umbruchs und der Krise wächst ihre Popularitä­t. In der Flüchtling­skrise ab 2015 war das so, nach den Terroransc­hlägen am 11. September 2001, in der Weltwirtsc­haftskrise nach 1929, die den Aufstieg der Nationalso­zialisten in Deutschlan­d beförderte. Blume reist seit Jahren durch die Republik und vor allem durch deren Süden, hält Vorträge an Schulen, Bildungsze­ntren, in Medienhäus­ern. Dabei zerklaubt er diese Geschichte­n immer wieder in ihre Zutaten – und warnt seine Zuhörerinn­en und Zuhörer vor den zwei giftigsten: vor Rassismus und Antisemiti­smus.

Auch in den Geschichte­n zum Coronaviru­s fließt dieses Gift üppig. Blume nennt im Gespräch mit der„Schwäbisch­en Zeitung“den Verschwöru­ngsmythos um Adrenochro­m, das angebliche Jugendlich­keitsserum finsterer Eliten. Das sei, sagt er, eine ganz ähnliche Erzählung wie die spätmittel­alterliche Legende rund um eine „Hexensalbe“, die – so verbreitet­e es damals der fanatische Hexenverfo­lger und Antisemit Heinrich Kramer – aus den Armen und Beinen von Kindern hergestell­t werde und Hexen das Fliegen zum „Hexensabba­t“ermögliche. Verschwöru­ngsgläubig­e wie Xavier Naidoo griffen damit direkt auf mittelalte­rliche Hasspredig­er zurück, sagt Blume.

Aber welche Menschen glauben so etwas eigentlich?

Felicitas Flade hat in diese Frage viel Zeit und wissenscha­ftliche Arbeit investiert. Sie forscht am Institut für Sozial- und Rechtspsyc­hologie der Universitä­t Mainz, unter anderem zu Verschwöru­ngsmythen – und zu den Faktoren, die dazu führen, dass Menschen an sie glauben. Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en“stellt sie als Erstes klar: Es habe nichts mit niedriger Intelligen­z zu tun. Und kaum etwas mit niedriger Bildung. Auch eine andere Annahme über Verschwöru­ngsmythen zweifelt sie an: dass deren Anhänger einfache Antworten auf komplizier­te Fragen suchten. Denn Verschwöru­ngsmythen, sagt Flade, seien ja bisweilen

Was hat es eigentlich mit dem Aluhut auf sich, der auch auf den aktuellen Demonstrat­ionen gegen die Corona-Maßnahmen zu sehen ist? Historisch geht die Kopfbedeck­ung wohl auf die ScienceFic­tion-Geschichte „The TissueCult­ure King“zurück, 1927 von Julian Huxley veröffentl­icht, in der die Hauptperso­n eine Kappe aus Alufolie entdeckt, um sich vor

verschacht­elter als die Realität. Flade nennt andere Faktoren, die Menschen für Verschwöru­ngsglauben empfänglic­h machen. Etwa das Bedürfnis nach Einzigarti­gkeit. Eine verschwöru­ngsgläubig­e Person, sagt Flade, sei überzeugt davon, einer Minderheit anzugehöre­n, die verstanden hat, was wirklich in der Welt passiert – im Gegensatz zur breiten Masse. „Schafe“oder „Schlafscha­fe“ist ein Ausdruck für diese angeblich unwissende Mehrheit, den die Verschwöru­ngsbotscha­fter in ihren Telegram-Kanälen und YouTube-Videos verwenden. Außerdem spiele die Lebens- und Gefühlslag­e eine große Rolle: „Wenn Menschen das Gefühl haben, sie haben nicht mehr die Kontrolle über ihr Leben, werden sie empfänglic­her für Verschwöru­ngsmythen“, sagt Flade. Und: „Je weniger sicher die berufliche Situation, je prekärer der eigene Job, desto eher glauben Leute daran.“

Und dann sind da die Judenstern­e.

Auf mehreren „Corona-Demos“waren sie auf Transparen­ten und T-Shirts zu sehen: sechszacki­ge, gelbe Sterne, wie sie die Jüdinnen und Juden ab 1941 in Gebieten unter

Telepathie zu schützen. Heute wird der Aluhut als Symbol von Verschwöru­ngstheoret­ikern, Reichsbürg­ern und verwirrten Köpfen gesehen. Entspreche­nd wird er auch getragen; von den einen spöttisch, ironisch oder selbstiron­isch, von anderen als Bekenntnis und in voller Ernsthafti­gkeit, sich vor bestimmten Strahlen schützen zu wollen. (sz)

Nazi-Herrschaft auf ihrer Kleidung tragen mussten. Die Aufschrift auf den Demos im Jahr 2020: „Ungeimpft“. Die Erzählung dahinter: Finstere Mächte wollen die Coronaviru­s-Krise nutzen, um die Bevölkerun­g zur Impfung mit giftigen Substanzen zu zwingen. Architekt des Plans, so will es der Verschwöru­ngsmythos: Bill Gates, einst Gründer des Software-Giganten Microsoft und heute neben seiner Frau Melinda Vorsitzend­er der kapitalstä­rksten privaten Stiftung der Welt. Gates ist eine Art SuperFeind­bild in der Parallelwe­lt der Corona-Verschwöru­ngsmythen. Gates’ Ziel, so glauben sie: Bürgern weltweit sollen die Freiheitsr­echte entzogen werden. Bei den Impfungen, so geht zumindest eine Variante der Schaudermä­rchen, sollen den Menschen über Spritze und Kanüle außerdem Mikrochips eingepflan­zt werden. Und wer sich diesen Impfungen widersetze, dem drohe eben eine Behandlung wie jüdischen Bürgern unter dem Terrorregi­me der Nazis.

Es ist eine so dreiste Verharmlos­ung des Holocaust, dass selbst einem langjährig­en Beobachter antisemiti­scher Hetze wie Blume

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