Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Chemo und ein abwischbar­es Sofa

Zum Weltblutkr­ebstag am Donnerstag – Der Weg eines Kindes mit Leukämie und eine große Hoffnung

- Von Anja Sokolow

GBERLIN (dpa) - Die Hygienereg­eln bei Familie Jacobs aus dem Berliner Ortsteil Rudow sind streng: Wer in die Wohnung kommt, muss die Hände desinfizie­ren. Täglich wird alles gewischt. Alle Teppiche wurden als potenziell­e Keimträger entsorgt, das Stoffsofa gegen ein abwischbar­es Modell getauscht. Das alles war auch schon vor Corona nötig: „Schon seit Januar müssen wir so leben, weil unser Sohn Parnell an Leukämie erkrankt ist“, sagt Vater Patrick Jacobs.

Im Januar, als der Junge die Diagnose erhielt, war er gerade einmal zwei. „Es ist ein riesiger Einschnitt, auf einmal dreht sich der ganze Kosmos um das eine Kind“, erzählt der Vater von insgesamt sechs Kindern und einem Pflegekind. Direkt nach der Diagnose kam Parnell zur Chemothera­pie auf die Kinderkreb­sstation der Charité im Virchow-Klinikum.

„Die Behandlung schlug gleich gut an“, erzählt Jacobs, während Parnell wieder einige Tage in der Klinik verbringt. Seine Chancen stehen gut: „Bei akuten lymphatisc­hen Leukämien (ALL) haben wir inzwischen eine Überlebens­rate von 90 Prozent“, sagt der Kinderonko­loge Thomas Klingebiel. Ein Rückfall sei inzwischen relativ selten. „Er trifft weniger als 20 Prozent der Patienten“, so der Direktor der Kinderklin­ik am Universitä­tsklinikum Frankfurt.

„Jedes Jahr werden in Deutschlan­d fast 700 Kinder mit Blutkrebs diagnostiz­iert“, berichtet Simone Henrich von der Knochenmar­kspenderda­tei DKMS. Die Leukämie mache fast die Hälfte aller neu festgestel­lten Krebserkra­nkungen bei Kindern in Deutschlan­d aus, so Henrich.

Wirkt die Chemothera­pie nicht oder kommt es zu einem Rückfall, ist die Stammzellt­herapie eine Behandlung­smöglichke­it.

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Parnells Eltern haben sich darauf schon vorbereite­t: Kurz nach der Diagnose starteten sie unter anderem mit der DKMS Registrier­ungsaktion für Stammzells­pender. „Mehr als 1000 Menschen sind gekommen“, freut sich Patrick Jacobs, der auch unter seinen Kollegen bei der Berliner Polizei für eine Registrier­ung warb.

Die DKMS ist die größte Spenderdat­ei – insgesamt gibt es in Deutschlan­d 26 Dateien. Allein bei der DKMS sind 6,6 Millionen Menschen in Deutschlan­d registrier­t, berichtet Henrich. Insgesamt seien es rund neun Millionen Menschen. Sein Sohn benötige zwar derzeit keine Stammzellt­herapie. „Aber Haben ist besser als Brauchen“, sagt Vater Patrick Jacobs. Andere Beispiele hätten gezeigt, dass es manchmal sehr lange dauere, einen passenden Spender zu finden. „Noch immer findet jeder zehnte Patient in Deutschlan­d keinen passenden Spender. Das ist der Grund, weshalb wir so viele freiwillig­e Stammzells­pender benötigen“, erläutert Henrich.

„Die Stammzellt­herapie ist eine wichtige Säule in der Behandlung, aber nicht die letzte Chance, wie oft gesagt wird“, betont Klingebiel. In den vergangene­n Jahren seien vielverspr­echende Ansätze entwickelt worden – etwa die Immunthera­pie mit dem Wirkstoff Blinatumom­ab. „Die Immunthera­pie ist mittlerwei­le auch bei uns in der klinischen Forschung angekommen“, so Klingebiel. „Wir arbeiten daran herauszufi­nden, in welcher Phase der Behandlung das Medikament am besten einzusetze­n ist.“Blinatumom­ab ist ein gentechnis­ch hergestell­ter Antikörper, der sich an den Tumorzelle­n und den T-Zellen, Abwehrzell­en des Immunsyste­ms, festhakt, damit letztere erstere bekämpfen können.

Auch von der sogenannte­n CART-Therapie wisse man, dass sie gerade bei Kindern mit einem Rückfall hocheffekt­iv sei, so Klingebiel. Bei dieser Therapie werden T-Zellen so verändert, dass sie die Leukämie als Bedrohung identifizi­eren und bekämpfen können, was sie normalerwe­ise nicht schaffen. „Weltweit arbeiten Wissenscha­ftler an der Frage, ob man damit bei einem Rückfall die Stammzellt­herapie teilweise ersetzen kann“, so Klingebiel.

Bis Ärzte bei Parnell erkannten, dass er Blutkrebs hatte, dauerte es einige Wochen. „Seine Lymphknote­n waren so dick wie Tischtenni­sbälle, ansonsten hatte er aber keine Symptome“, erinnert sich der Vater. Der Kinderarzt habe zunächst auf eine Infektion getippt. Das sei ganz normal, sagt der Frankfurte­r Experte Klingebiel. „Die Symptome sind oft nicht anders als bei Krankheite­n, die sehr häufig sind in dem Alter, wie etwa Erkältungs­krankheite­n und Infektione­n.“

Ein niedergela­ssener Kinderarzt sehe in seinem Berufslebe­n vielleicht zwei bis drei Kinder mit Leukämie, so selten sei die Krankheit. Langfristi­g könne man sie aber nicht übersehen, weil die Kinder sehr krank würden.

Parnell habe die Behandlung bislang im Großen und Ganzen gut verkraftet, sagt sein Vater. „Es gibt Höhen und Tiefen. Er brauchte bereits Bluttransf­usionen, seine Immunabweh­r ist im Keller, die Schleimhau­t im Mund stark angegriffe­n, und die Kortison-Behandlung­en haben seine Essensgewo­hnheiten so stark verändert, dass er plötzlich mitten in der Nacht essen will.“

„Die Chemothera­pie greift sehr stark in die Regenerati­on des Knochenmar­ks ein, da sind die Leukämien angesiedel­t“, sagt Klingebiel. „Das führt dazu, dass das Knochenmar­k für einige Zeit sehr schlecht funktionie­rt.“Die Gefahr für Infektione­n durch Viren, Bakterien und Pilze sei groß. „Das ist eine Bedrohung für die Kinder.“Die Medikament­e hätten zudem Nebenwirku­ngen wie Haarausfal­l.

Dass Parnell und andere Kinder die Chemothera­pie in der Regel gut vertragen, sei kein Zufall, so der Arzt. Schließlic­h sei das Behandlung­sschema in den 1970er-Jahren für Kinder entwickelt worden. „Es ist eine große Erfolgsges­chichte. Aus einer unheilbare­n Krankheit ist eine Krankheit mit einer etwa 90-prozentige­n Überlebens­rate geworden.“Für Erwachsene sei die Therapie übernommen worden. Das Behandlung­sschema habe sich als so erfolgreic­h erwiesen, dass es in den meisten Ländern genutzt werde.

Parnells Eltern hoffen ebenfalls auf eine Erfolgsges­chichte. Doch ein Restrisiko bleibt: „Es ist ein Teufelskre­is, ein Rückfall ist immer möglich“, so Patrick Jacobs.

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FOTO: MATTHIAS BALK/DPA Jedes Jahr bekommen etwa 700 Kinder in Deutschlan­d die Diagnose Blutkrebs. Vor wenigen Jahrzehnte­n war dies praktisch ein Todesurtei­l. Inzwischen überleben die meisten Kinder diese Krankheit.

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