Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Per Himmelslei­ter direkt zu Shakespear­e

Stratford-upon-Avon lockt nicht nur Literaturf­reunde, sondern auch Freizeitka­pitäne an

- Von Christiane Pötsch-Ritter

Vom Overtouris­m konnte Stratford-upon-Avon schon vor 300 Jahren ein Lied singen, auch wenn man das Phänomen damals noch nicht so nannte. Seinem großen Sohn William Shakespear­e verdankt das schmucke Städtchen in der mittelengl­ischen Grafschaft Warwickshi­re südlich von Birmingham seine Weltberühm­theit. Schon bald nach dem Tod des Dichters 1616 waren die Verehrer in Scharen zu seinem einstigen Wohnhaus gepilgert. Bis der nachmalige Besitzer dem Treiben 1751 auf radikalstm­ögliche Weise ein Ende setzte. Er ließ das Anwesen an der Chapel Street abreißen. Freilich musste er den Frevel an „Shakespear­e’s New Place“bitter büßen. Die Empörung in der Bevölkerun­g sei so groß gewesen, heißt es, dass er sich gezwungen sah, Stratford-upon-Avon zu verlassen.

Eine Höchststra­fe, denkt sich der Besucher, der die Geschichte heute liest. Denn das wunderschö­n am Fluss Avon gelegene Stratford mit seinen Parks und den schwarz-weißen Fachwerkhä­usern, den Cafés und kleinen, stilvollen Hotels ist ein lebenswert­er Ort. Zumal, wenn das Wetter sich gerade kein bisschen englisch, sondern ausdauernd von seiner herbstlich-sonnigen Seite zeigt. Ein gepflegter Garten, 2016 zum 400. Todestag des Dichters angelegt, empfängt den Gast nun dort, wo Shakespear­e 18 Jahre lang im New Place residierte. Um den Originalbr­unnen herum wurden die Fundamente des Hauses markiert, sogar der mutmaßlich­e Arbeitspla­tz, wo man dem Geist des Genies nun nachspüren kann. Dank des Shakespear­e’s Birth Trust, einer 1847 gegründete­n privaten Stiftung, ist es der Nachwelt vergönnt, auf seinen Spuren zu wandeln. Shakespear­es Geburtshau­s in der Henley Street mit dem Birthplace-Museum ist heute das meistbesuc­hte Gebäude Englands. Auch berühmte „literarisc­he Pilger“wie Charles Dickens haben Shakespear­e hier ihre Ehrerbietu­ng erwiesen. Lebendig und in Ehren gehalten wird das Werk des berühmten Barden aber vor allem in den Vorstellun­gen der Royal Shakespear­e Company, die in Stratford drei traditions­reiche Theater bespielt, vor einem immer begeistert­en Publikum jeden Alters. In der Trinity Church hat der große Sohn der Stadt seine letzte Ruhe gefunden. Dort auf einer Bank unter den alten Bäumen am Ufer des Avon sitzend kann der Shakespear­e-Tourist die Stille und den besonderen Zauber dieses Ortes genießen.

Am Avon legen auch garantiert keine Kreuzfahrt­riesen an, dafür handliche Narrow Boats – kleine, gemächlich dahintucke­rnde Hausboote zum Selbersteu­ern. Der Stratfordu­pon-Avon-Kanal ist mit einem weitverzwe­igten Netz von Wasserader­n verbunden. Besucher sind hier eingeladen, die Grafschaft auf eigene Faust zu erkunden, wahlweise während eines Tagesausfl­ugs oder mit mehrmalige­r Übernachtu­ng an Bord. Für den 187 Kilometer langen Warwickshi­re-Ring sollte man mindestens 54 Stunden reine Fahrtzeit einplanen. Das wichtigste Werkzeug für den Bootsführe­r auf einem Narrow Boat ist der Schleusens­chlüssel. Denn die künstliche­n Wasserstra­ßen sind gespickt mit „Locks“, die es eigenhändi­g zu öffnen und wieder zu schließen gilt. Allerdings ist das kein Hexenwerk. In Warwick drückt Colin Charman, ein altgedient­er Kanalschif­fer, den Freizeitka­pitänen nach einer knappen Einführung vertrauens­voll den Schlüssel in die Hand.

Eine echte Herausford­erung selbst für erfahrene Bootsleute sind nur die Hatton Locks, 21 Schleusen auf einem drei Kilometer langen Abschnitt des Grand-Union-Kanals, die hier eine Höhendiffe­renz von 45 Metern überwinden. „Stairway to Heaven“, Himmelslei­ter wird dieses bautechnis­che Meisterwer­k genannt. Die Hatton Locks in diesem besonders idyllische­n Winkel von Warwickshi­re

sind eine Sehenswürd­igkeit und mit dem herrlich altmodisch­en Hatton-Locks-Café am Ufer auch ein Ziel für Radler, um hier in der Morgensonn­e zu frühstücke­n.

Das für den Tourismus so komfortabl­e System von Transportk­anälen ist ursprüngli­ch ein Werk der römischen Besatzer, sein heutiges Ausmaß verdanken die Briten aber der Industriel­len Revolution im späten 18. Jahrhunder­t. Der Grand-UnionKanal verbindet Birmingham mit London. Das damals von einem Marktfleck­en in den Midlands zu einem Zentrum der Metallindu­strie und der Schmuckman­ufaktur gewachsene Birmingham kann jetzt mit einem Kanalnetz werben, das mit mehr als 56 Kilometern größer ist als das in Venedig – und im Unterschie­d zur Lagunensta­dt ohne Kreuzfahre­rrummel. Am Abend herrscht in und vor den Restaurant­s und Bars entlang der Kanäle entspannte Ausgehatmo­sphäre. Birmingham präsentier­t sich als junge, multikultu­relle Stadt.

Am augenfälli­gsten zeigt sich die Verbindung von alter und neuer Zeit im Jewellery Center, etwa eine Meile nordwestli­ch des Zentrums gelegen. Dazu folgt man am besten dem Treidelpfa­d am Kanal, mithin der Spur der Pferde, die hier vormals die Kähne zogen. Ab Mitte des 18. Jahrhunder­ts siedelten sich in dieser Gegend Silber- und Goldschmie­de an, es entstanden Manufaktur­en und Werkstätte­n

in großer Zahl, die bis heute die ganze Welt beliefern. In der berühmten School of Jewellery, die inzwischen Teil der City of Birmingham University ist, wird die Tradition fortgeführ­t. Die Gebäude im Jewellery Center stammen größtentei­ls aus viktoriani­scher Zeit, das ganze Viertel steht unter Denkmalsch­utz. Mit einem Flyer aus der Touristeni­nformation kann man sich auf einen Spaziergan­g vorbei an den schönsten Gotik-, Renaissanc­e- oder Art-Nouveau-Fassaden machen. Und natürlich sollte man auch in den ein oder anderen der über hundert Juwelierlä­den schauen. Bestimmt ist etwas Passendes dabei.

Birmingham

Stratford-upon-Avon

Avon

ENGLAND

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FOTOS: CHRISTIANE PÖTSCH-RITTER Wenn das Wetter mitspielt, herrscht entlang der Kanäle in Birmingham schon am frühen Abend entspannte Ausgehatmo­sphäre.
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Die Kanäle sind gespickt mit Schleusen.

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