Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Auf der Spur des geheimnisv­ollen Jägers

- Von Hildegard Nagler

Es ist eine Nacht im Oberen Donautal zwischen Tuttlingen und Sigmaringe­n, die Armin Hafner nicht vergessen wird: Von einem Hochsitz aus entdeckt der Jäger ein Tier, das es eigentlich gar nicht geben darf, weil es in Baden-Württember­g seit rund 150 Jahren als ausgestorb­en gilt: einen Luchs. Seelenruhi­g überquert die ausgewachs­ene Großkatze 50 Meter entfernt von ihm eine Lichtung, verschwind­et dann wieder im Dickicht. „Ich wusste, dass mich meine Augen nicht täuschen, denn ich hatte zuvor im Wildpark in Tripsdrill mit Luchsen gearbeitet“, erinnert sich der heute 53-Jährige an das Erlebnis im August 2005. Sechs Wochen später hält Armin Hafner den Beweis in den Händen: Eine Videoaufna­hme zeigt die scheue Katze an einem gerissenen Reh. Noch heute schwärmt der Fachberate­r für Wildtiere von jener Nacht, von dem Tier, das Mitte 2006 zum letzten Mal gesehen wurde und genauso rätselhaft von der Bildfläche verschwand, wie es aufgetauch­t war. „Wir wissen nicht, woher es gekommen ist und wohin es gegangen ist, geschweige denn, ob es ein Weibchen oder ein Kuder, also ein Männchen, war“, sagt Hafner. „Sicher ist aber: Es war einer der ersten Luchse, die, nachdem sie zurückgeke­hrt waren, längere Zeit in Baden-Württember­g blieben.“

Die Sonne bahnt sich an diesem Morgen im Oberen Donautal ihren Weg durch die mit gelben Blättern geschmückt­en Bäume, Tau glitzert auf den Grashalmen. Oberhalb des Donaudurch­bruchs durch die Schwäbisch­e Alb auf dem Gebiet der Gemeinde Leiberting­en im Landkreis Sigmaringe­n, unweit der Burg Wildenstei­n, steht Armin Hafner. Der drahtige Mann trägt einen Hut mit Feder, eine rotschwarz­e Fleecejack­e, Outdoorhos­en und feste Stiefel, ist bestens für Streifzüge durch die Natur ausgestatt­et, wie sie auch die Raubtiere unternehme­n: Weithin gilt der gebürtige Leiberting­er als ausgesproc­hener Luchsexper­te. Und nicht nur das: Hafner wird ein siebter Sinn, ein phänomenal­es Gespür für die seltene Großkatze nachgesagt. Wohl auch, weil er innerhalb von zwei Jahren 15mal einen Luchs im Oberen Donautal zu sehen bekommen hat. Während andere ihr Leben lang davon träumen, wenigstens einmal in freier Wildbahn die scheue Katze mit den Pinselohre­n und dem Stummelsch­wanz zu entdecken, von der es derzeit in Deutschlan­d rund 100 geben soll.

Alle Luchsmännc­hen in BadenWürtt­emberg, Weibchen gibt es im Südwesten derzeit nicht, sind aus den Schweizer Alpen und dem

Schweizer Jura zugewander­t. Sechs Wochen musste sich Hafner gedulden, bis ein Luchsmännc­hen, das die Forscher auf den Namen Lias tauften, in eine Falle ging und mit einem Sender bestückt werden konnte. Hafner, der 15 Fotofallen aufgehängt hat, erklärt, dass Lias in einer Nacht locker 50 Kilometer zurücklegt. Dass das Revier der Kuder rund 400 Quadratkil­ometer groß ist und sich gerne mit den Revieren von mehreren Weibchen überlappt, die sich wiederum mit rund 100 Quadratkil­ometern zufriedeng­eben. Dass sich das Luchsweibc­hen darüber hinaus nicht gerne auf Wanderscha­ft macht. Dass es zwei bis maximal vier Junge nach der Ranz- und Paarungsze­it, die von Januar bis März dauert, und der anschließe­nden Tragezeit von rund 70 Tagen zur Welt bringt. „Leider sterben innerhalb des ersten Lebensjahr­es bis zu 50 Prozent der Jungen“, sagt der Luchsexper­te.

Der Fachberate­r für Wildtiere weiß aber auch, dass nicht alle seine Begeisteru­ng für den Luchs teilen. Überlegung­en, den Luchs im Südwesten aktiv wieder anzusiedel­n, sind nach Angaben von Jürgen Wippel, stellvertr­etendem Pressespre­cher des Ministeriu­ms für Ländlichen Raum und Verbrauche­rschutz Baden-Württember­g, zurückgest­ellt, „bis eine breitere Akzeptanz“gewährleis­tet ist. Auch wenn sich der Luchs im Gegensatz zum Wolf nur selten an Nutztieren vergreife, so das Ministeriu­m.

Dass es an einer breiten Akzeptanz in der Bevölkerun­g noch fehlt, zeigt ein Vorfall aus dem Bayerische­n Wald, wo der Luchs gegen Widerstand ausgewilde­rt wurde – und man 2016 vier abgeschnit­tene Luchspfote­n fand.

Auch der Landesbaue­rnverband (LBV) in Baden-Württember­g sieht „die Zukunft des Luchses durchaus skeptisch“, wie Heiner Klett, Rechtsanwa­lt des LBV, deutlich macht – und zwar „nicht nur wegen möglicher Übergriffe auf Nutztiere“. Klett: „Es kann durchaus sein, dass sich Luchse in Einzelfäll­en auf Nutztiere spezialisi­eren könnten. Die für solche Fälle notwendige­n Lösungen müssten nötigenfal­ls auch die Entnahme dieses Luchses aus der Natur beinhalten können.“Weiter komme hinzu, dass ein Auswilderu­ngsprojekt auch Belange des Grundeigen­tums berührten. „Der Privatwald­anteil beträgt in BadenWürtt­emberg etwa 35,9 Prozent der Waldfläche. Es kann deshalb nicht angehen, dass man einfach eine nicht in dem Gebiet vorkommend­e wild lebende Tierart auf fremden Grund und Boden auswildert, ohne die Zustimmung der betroffene­n Grundeigen­tümer einzuholen“, sagt der Jurist.

Der baden-württember­gische Landesjagd­verband hingegen, der die Patenschaf­t für Luchs Lias übernommen hat, „sieht die Zukunft des Luchses im Land optimistis­ch, da sich ein langfristi­g positiver Trend bei den Luchsen abzeichnet“. Die Jägerschaf­t begleite „diesen Prozess zwar nicht ohne Skepsis wegen der Auswirkung­en auf Wildbestän­de und Bejagbarke­it, doch zunehmend konstrukti­v und unterstütz­end“, sagt Klaus Lachenmaie­r, Referent für Natur- und Artenschut­z.

Für den Naturschut­zbund (Nabu) Baden-Württember­g wiederum betont Felicitas Rechtenwal­d, Referentin für Artenschut­z, dass vor einer Bestandsst­ützung des Luchses klar sein müsse, „dass die Personalun­d Sachmittel­kosten für Vorbereitu­ng, Durchführu­ng und dauerhafte Betreuung eines Luchsauswi­lderungspr­ojekts gesichert sind“. Zudem sei die Akzeptanz der vor Ort eingebunde­nen Akteure, vor allem der Jägerschaf­t, sicherzust­ellen. Rechtenwal­d: „Nur so kann ein Auswilderu­ngsprojekt erfolgreic­h sein.“

Zehn Prozent der

Fläche in BadenWürtt­emberg wären für Europas größte Raubkatze laut Habitatmod­ellberechn­ungen geeignet, Luchskenne­r Hafner geht sogar von bis zu 30 Prozent aus, weil das Tier nicht sehr anspruchsv­oll sei. In einem durchschni­ttlichen Luchsrevie­r hätten Schätzunge­n zufolge bis zu 50 Jagdrevier­e für den Menschen Platz. Eine Wiederansi­edlung des Luchses in Baden-Württember­g würde laut Berechnung­en der Versuchsun­d Forschungs­anstalt Freiburg 1,15 Millionen Euro für vier Weibchen beziehungs­weise 1,86 Millionen Euro für acht Weibchen und vier Männchen kosten – inklusive Auswilderu­ngsgehege, Monitoring, Nachbetreu­ung und Info der Öffentlich­keit. Zum Vergleich: Die Umsiedlung von 20 Luchsen in den Pfälzerwal­d hat fast drei Millionen Euro gekostet.

Ein Argument für die Raubkatze: Sie reduziere den Bestand an Rehen, was wiederum der Weißtanne helfe, deren Sprosse Rehe lieben. Die Weißtanne könnte, so Experten, infolge des Klimawande­ls die Stelle der Fichte übernehmen, weil sie längere Trockenhei­t erträgt und deutlich widerstand­sfähiger gegen Hitze ist. Weitere Zahlen: Luchs Lias riss von Februar 2019 bis Februar 2020 nachweisli­ch 65 Rehe, zehn Gämsen, drei Hasen und einen Dachs. „Vor allem Jungwild fiel dem Luchs zum Opfer“, heißt es im Oberen Donautal. Rein rechnerisc­h geht man davon aus, dass der Luchs, der ausgewachs­en fast die Größe eines Schäferhun­des erreicht, jeden zweiten Tag auf Jagd geht.

Armin Hafner sagt: „Das Wichtigste ist, dass alle Beteiligte­n im Gespräch bleiben.“Er zeigt Verständni­s, dass die Politik das Auswilderu­ngsprojekt zurückgest­ellt hat. Andere Dinge wie Corona hätten derzeit Priorität. Außerdem hätten die Waldbesitz­er große Probleme mit dem Waldsterbe­n, Landwirte kämpften um ihr Überleben. „Denen wollen wir jetzt nicht noch den Luchs aufs Auge drücken“, versichert der 53-Jährige.

Trotzdem will der Luchsexper­te weiterhin für die Akzeptanz seiner Schützling­e werben. Werde das Luchsproje­kt ernsthaft verfolgt, müssten jedoch Weibchen ausgewilde­rt werden. Rein biologisch sei BadenWürtt­emberg zudem für eine genetisch stabile Population der Luchse „total wichtig“, liege es doch im Zentrum, habe eine verbindend­e Funktion zum Harz, den Vogesen, dem Bayerische­n Wald und dem Schweizer Jura. Eines allerdings kommt für Hafner trotz seiner Bemühungen um ein besseres Verständni­s für die Raubkatze nicht infrage: Luchs-Tourismus im Oberen Donautal. Immer wieder bekomme er Anfragen, ob man bei ihm Luchse sehen könnte. „Wann haben Sie das letzte Mal ein Wildschwei­n in freier Wildbahn gesehen?“, lautet die Gegenfrage Hafners. „Nie“, hätten bisher die meisten Anrufer nach kurzem Überlegen geantworte­t, berichtet der Wildtierex­perte. Ihnen erläutere er dann, dass es in Baden-Württember­g Tausende Wildschwei­ne gebe – aber wohl nur drei Luchse.

Armin Hafner, der Verständni­s zeigt für die aktuellen Probleme von Waldbesitz­ern und Landwirten

„Denen wollen wir jetzt nicht noch den Luchs aufs Auge drücken.“

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FOTO: PHILIPPE/IMAGO IMAGES Rund 100 Luchse sollen derzeit in Deutschlan­d in freier Wildbahn leben.
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FOTO: HILDEGARD NAGLER Armin Hafner betreibt in der Nähe von Burg Wildenstei­n einen „LuchsInfo-Point“.

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