Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Tschechien im Corona-Krisenmodus
Ausgangssperre gilt – Vom Vorbild zum Sorgenkind – Krankenhäuser hart am Limit
PRAG (dpa) – Die Rückkehr zur Normalität rückt in stark von Corona betroffenen EU-Ländern in weite Ferne: Tschechien hat am Donnerstag zum zweiten Mal seit dem Frühjahr Ausgangsbeschränkungen verhängt und lebt im Corona-Ausnahmezustand. Wer nicht mitmacht, kommt in Quarantäne.
Insgesamt befinden sich mehr als 4400 Menschen im Krankenhaus in Behandlung. Die Gesamtzahl der Todesfälle in Verbindung mit einer Covid-19-Erkrankung seit Beginn der Pandemie stieg auf 1739.
Derweil traten drastische Maßnahmen gegen die Corona-Welle in Kraft. Die Bürger sollen das Haus oder die Wohnung nur noch verlassen, um zur Arbeit zu gehen, das Nötigste einzukaufen oder Arzt- und Familienbesuche zu erledigen. Auch Spaziergänge in Parks und Natur sind erlaubt. Die meisten Geschäfte müssen geschlossen bleiben. Ausgenommen sind unter anderem Supermärkte und Drogerien.
Die Regierung habe zum „stärksten Kaliber“gegriffen, das ihr zur Verfügung stehe, sagte Innenminister Jan Hamacek der Zeitung „Pravo“. Der Sozialdemokrat versicherte, dass die Grenzen – anders als im Frühjahr – offen bleiben würden. Die deutsche Bundesregierung hat allerdings eine Reisewarnung für Tschechien ausgesprochen.
In der sonst so lebendigen Hauptstadt Prag waren die Straßen am Donnerstag viel leerer als sonst. Nur wenige Menschen waren trotz des sonnigen Wetters unterwegs. Fast alle trugen wie vorgeschrieben eine Maske. Auf der Einkaufsstraße im Stadtteil Vrsovice hatten die meisten Geschäfte geschlossen. In den Straßenbahnen der Hauptstadt, wo die Menschen normalerweise dicht an dicht stehen, fand jeder einen Sitzplatz.
„Die Gesetze sind nicht für die Menschen gemacht“, klagte eine Café-Besitzerin, die an einem Fenster noch Getränke und Kuchen zum Mitnehmen verkauft. Doch der Erlös reiche nicht einmal für die Miete, berichtete die Unternehmerin. Sie wundert sich über die vielen Ausnahmen, etwa für Blumengeschäfte und Tabakläden. In Deutschland, da habe man die Corona-Krise unter Kontrolle gebracht, sagte sie.
In den Online-Kommentarseiten der Zeitungen entlädt sich die Wut über das Minderheitskabinett des Multimilliardärs Andrej Babis. „Das gab es selbst unter den Bolschewiken nicht“, heißt es da. Oder: „Sie treiben das Land in den Ruin.“Pikant für die Regierung: An die Öffentlichkeit geratene Daten des Gesundheitsministeriums zeigen, dass sich bei der Arbeit die meisten Menschen anstecken. Doch Fabriken und Unternehmen laufen ungebremst weiter.
Mit seinem Zickzack-Kurs hat sich Regierungschef Babis viel Kritik eingehandelt. Noch im September hatte der 66-Jährige gesagt, man müsse keine Angst mehr vor dem Virus haben. In einer aktuellen Umfrage vertrauten ihm bei der Bekämpfung der Pandemie nur noch 36 Prozent der 1200 Befragten.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen äußerte sich besorgt über die Lage in Tschechien. „Die EU ist hier, um zu helfen“, schrieb sie bei Twitter. Die Politikerin kündigte die rasche Lieferung von zunächst 30 Beatmungsgeräten aus der EU-Reserve an.
Was ist schiefgelaufen, fragen sich nun viele. „Der Fehler ist wahrscheinlich im Sommer geschehen, als die Maßnahmen schnell gelockert wurden“, sagt der Epidemiologe Petr Smejkal vom Prager Forschungskrankenhaus IKEM. Die Menschen hätten vergessen, dass das Virus immer noch unter uns ist.
Auch die Regierung und verschiedene Experten hätten widersprüchliche Botschaften ausgesendet. Immerhin sei die Kommunikation inzwischen besser geworden.
Verhalten sich viele Tschechen wie Schwejk, der Soldat aus dem Schelmenroman Jaroslav Haseks, der sich immer irgendwie durchmogelt? „Ja, das hängt damit zusammen“, meint Smejkal. Was die Akzeptanz der Regeln angehe, habe sich die Haltung der Menschen seit dem Frühjahr geändert. Das Vertrauen zwischen Regierung und Bevölkerung sei längst nicht so weit entwickelt wie in Deutschland oder Schweden. So kam es am Sonntag in Prag zu Ausschreitungen, als Hunderte Fußball- und Eishockey-Fans gegen die Einschränkungen im Sport protestierten.
Inzwischen sind Schulen und Gastronomie geschlossen, Sport- und Kulturveranstaltungen ausgesetzt, Treffen von mehr als sechs Personen untersagt. Doch die Corona-Zahlen steigen und steigen. Damit wird der andauernde Personalmangel im Gesundheitswesen zu einem immer größeren Problem. „Eine Krankenschwester
für die Intensivstation auszubilden, braucht Zeit“, sagt Smejkal. Seit Jahren gehen jährlich Hunderte Ärzte, Medizinabsolventen und Pfleger auf der Suche nach höheren Gehältern und besseren Arbeitsbedingungen ins Ausland.
Die Ärztekammer hat an die Auswanderer appelliert, vorübergehend zurückzukehren, um ihren Landsleuten zu helfen. Der Biologe Jaroslav Flegr hat sogar vorgeschlagen, notfalls Veterinärmediziner einzusetzen. Wie ernst die Lage ist, zeigt auch, dass sich die Regierung bereits in Nachbarländern wie Deutschland erkundigt hat, ob sie im Bedarfsfall Intensivpatienten aufnehmen könnten.
Präsident Milos Zeman appellierte in einer Fernsehansprache an die Disziplin der Bevölkerung beim Maskentragen. Das Staatsoberhaupt empfahl den Menschen dabei, auf Fachleute zu hören und nicht auf weit verbreitete Verschwörungstheorien hereinzufallen. Der 76-Jährige sagte: „Uns steht nur eine Waffe zur Verfügung, solange es keine Impfung gibt: Diese Waffe ist ein kleines Stück Stoff.“
RKI weitet Liste der Risikogebiete deutlich aus
BERLIN (dpa) - Am Donnerstag hat das Robert-Koch-Institut die Liste der Corona-Risikogebiete in Europa erneut deutlich ausgeweitet. Unter anderem werden jetzt ganz Polen, die ganze Schweiz, ganz Irland und ganz Liechtenstein in dieser Kategorie geführt. In Österreich sind nun acht von neun Bundesländern betroffen – nur Kärnten gilt nicht als Risikogebiet. Auch zahlreiche italienische Regionen wurden neu als Risikogebiete eingestuft, darunter die Toskana und die Lombardei, Sardinien und die autonome Provinz Bozen, also Südtirol. Ebenfalls als Risikogebiet wird das gesamte Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland geführt, ebenso Gibraltar.
Das RKI nahm noch zahlreiche weitere europäische Regionen in die Liste auf, etwa in Schweden, Bulgarien, Ungarn und Kroatien. Dagegen wurden die Kanarischen Inseln, die zu Spanien gehören, von der Liste gestrichen. Für Länder oder Regionen, die als Risikogebiet eingestuft wurden, gibt das Auswärtige Amt eine Reisewarnung heraus.
Europa schottet sich ab
PARIS (AFP) - Die zweite CoronaWelle in Europa nimmt immer besorgniserregendere Ausmaße an. Viele Länder schotten sich wieder zunehmend gegen das Virus ab. In gilt ab Freitagabend 23 Uhr, eine nächtliche Ausgangssperre für die Region Lazio, zu der auch die Hauptstadt Rom gehört, sowie für Kampanien mit Neapel. In der norditalienischen Region Lombardei sollte die Ausgangssperre bereits am Donnerstagabend in Kraft treten. Am Mittwoch verzeichnete das Land mit 15 200 Neuinfektionen die bislang höchste Zahl seit Beginn der Pandemie. In wo ab Freitag scharfe Corona-Beschränkungen auch in der Region Aragon und der Provinz La Rioja gelten, überstieg die Zahl der seit Beginn der Pandemie Infizierten die Marke von einer Million. In wurden bislang knapp 960 000 Menschen mit dem Virus infiziert. Die Regierung hat die nächtliche Ausgangssperre auf große Teile des Landes ausgeweitet. In 54 Départements dürften die Menschen ab Samstag ihre Häuser und Wohnungen zwischen 21 Uhr und 6 Uhr nicht verlassen. Damit sind insgesamt 46 Millionen Menschen von der Beschränkung betroffen – zwei Drittel aller Franzosen.
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