Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Spezialist der Zeit
Der 76-jährige Karlheinz Geißler ist emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik an der Bundeswehr-Universität in München und Zeitforscher. Schon früh haben ihn Fragen zum Umgang mit der Zeit beschäftigt. So lebt er bereits seit über 30 Jahren ohne persönliche Uhr. Geißler ist unter anderem Leiter des Projektes „Ökologie der Zeit“der Evangelischen Akademie Tutzing und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Zudem hat er „timesandmore“ins Leben gerufen, ein Institut für Zeitberatung.
Was meinen Sie? Sollte die Umstellung besser unterbleiben? Grundsätzlich entspricht die Normalzeit, also die sogenannte Winterzeit, eher unserem natürlichen Rhythmus. Für eine Umstellung gibt es zumindest keinen tieferen wirtschaftlichen Grund mehr. Der ursprüngliche Gedanke der Energieersparnis hat sich erledigt. Wenn es sommers länger hell ist, profitiert wohl gerade noch die Gastronomie, weil die Menschen länger sitzen bleiben.
Wie schätzen Sie des Bürgers Wille ein?
Umfragen helfen bei diesem Thema nicht wirklich weiter – siehe die Befragung der EU. Auch innerhalb Deutschlands haben solche Umfragen
ihre Tücken. Befragt man die Deutschen vormittags im März zur Umstellung, sind mehr als 74 Prozent eher dagegen. Ihnen ist das frühe Aufstehen lästig. Werden sie abends befragt, können aber plötzlich viel mehr einer Umstellung etwas Positives abgewinnen. Eine verlängerte Helligkeit verschafft ihnen mehr Handlungsspielraum.
Wie ist es aber mit dem menschlichen Organismus? Wird er durch die Umstellung beeinträchtigt?
Der menschliche Organismus stellt sich recht flexibel um. Wenn sie von Dresden nach Köln fahren, haben sie den gleichen Effekt. Der Wechsel der Zeitzone macht eine Stunde aus. Wir haben permanent solche Wechsel, auch beim Urlaub, wenn wir etwa nach Portugal reisen. Wobei sich der Organismus nach dem Sonnenstand richtet – und nicht nach der Uhr.
Die Uhr scheint also für das Leben etwas Unnatürliches zu sein, oder?
Die Uhr dient dazu, um Menschen zu organisieren. In ihrer mechanischen Form hat sie sich vor rund 600 Jahren verbreitet. Davor herrschte für die Menschen Gott über die Zeit. Nun konnte der Mensch über sie herrschen. Die Uhr fing Schritt für Schritt an, vielerorts den Alltag zu dominieren. Waren die Menschen zuvor quasi Opfer der Zeit, wurden sie nun Täter der Zeit.
Aber dies galt ja erst einmal für die Städte ...
Ja. Auf dem Land spielte die Uhr lange Zeit keine Rolle. Noch vor wenigen Generationen waren 90 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Sie haben sich nach der Natur gerichtet. Sie war ausschlaggebend, nicht die Uhr. Sie hatte keine Relevanz. Zeit war identisch mit dem Wetter. Deshalb ist in allen romanischen Sprachen Zeit und Wetter noch der gleiche Begriff. Das Wetter ist aber durch die Uhr aus der Zeit herausgenommen worden.
Wie Berichten zu entnehmen ist, tragen Sie selbst auch keine Uhr. Wie funktioniert dies?
Es funktioniert gut. Gegenwärtig beim Arbeiten im Homeoffice muss man sowieso nicht immer auf die Uhr schauen. Wenn ich Termine ausmache, vereinbare ich einen Zeitraum, beispielsweise vormittags. Zudem habe ich keinen Vorgesetzten, der sagt, wann ich wo zu sein habe. Ich gestalte meinen Tag praktisch nach dem Vorbild eines Emmentalers. Es gibt eine Form, die aber viele Löcher hat. Diese setze ich mit Zeiträumen gleich. Sie lass ich mir nicht wegorganisieren, sondern lass darin die Zeit auf mich zukommen. Wenn ich aber schon keine Uhr trage, heißt dies nicht, dass ich ohne Uhr lebe. Es hat ja überall welche, am Herd, an jedem technischen Gerät.