Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Erdogan und die Nazi-Vergleiche
Der türkische Präsident benutzt den Westen als Sündenbock
und dem Islam werde von einigen europäischen Staatsoberhäuptern unterstützt, sagte er am Montag in Anspielung auf Macron. „Sie sind Glieder einer Nazi-Kette.“Islam-Feindlichkeit im Westen sei umgeschlagen in einen „Großangriff auf unseren Koran, unseren Propheten und all unsere religiösen Werte“. Bereits vor drei Jahren warf er Kanzlerin Angela Merkel vor, sie benutze Nazi-Methoden.
Heute braucht die Regierung ein Thema, das die Öffentlichkeit fesselt, weil sich der Abwärtstrend der türkischen Wirtschaft dramatisch beschleunigt. Der Kurs der türkischen Lira ist gegenüber Dollar und Euro auf Rekord-Tiefstände abgesackt.
Erdogan und seine Minister reagieren mit einer Mischung aus Durchhalteparolen und Arroganz auf die Sorgen der Bürger. Als der Präsident bei einem Besuch in der Provinz jetzt von Normalbürgern zu hören bekam, sie könnten kein Brot mehr nach Hause
bringen, antwortete er, das komme ihm „sehr übertrieben“vor. Durch Streit mit dem Westen kann Erdogan davon ablenken und die politische Tagesordnung bestimmen. Widerspruch muss er dabei nicht fürchten, denn die Regierung beherrscht die Justiz und einen Großteil der Medien.
Es geht aber nicht nur um ein Ablenkungsmanöver. Erdogan beansprucht ein Mitspracherecht bei regionalen Themen vom Kaukasus bis Nordafrika und sieht sich zudem als Beschützerin der Muslime weltweit. Die Türkei betrachtet sich nicht mehr als Teil des Westens, sondern als Regionalmacht. Allerdings greift Erdogan nicht alle Großmächte so scharf an wie Europa: Russland oder China werden sanfter behandelt, auch wenn sie die Türkei kritisieren oder muslimische Minderheiten drangsalieren. Offenbar befürchtet Ankara, dass diese beiden Länder härter auf Kritik reagieren könnten als die EU. Erdogans
Regierung betrachte die EU als „Papiertiger“, sagt Marc Pierini, ein früherer EU-Botschafter in Ankara.
Mit seiner Taktik will Erdogan die Türkei zu einem regionalen Akteur machen, dessen Interessen international berücksichtigt werden müssen. Im Verhältnis zu Europa setzte Erdogan im Frühjahr die Flüchtlinge als politischen Hebel ein, als er die Grenze zu Griechenland öffnete. Jetzt will er die türkischen Minderheiten in Europa für seine Zwecke mobilisieren. Das könnte für deutsche Politiker oder Macron bei den Wahlen 2021 unangenehm werden. Als Präsident von sechs Millionen Türken in Europa warne er die dortigen Politiker davor, die Muslime gegen sich aufzubringen, sagte Erdogan am Montag.
Langfristig will Erdogan die Türkei aus dem Schatten von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk lösen. „Erdogan macht sich daran, ein neues Narrativ für die Türkei zu schreiben“, kommentiert der Journalist Mehmet Tezkan von der Nachrichtenplattform T24. Erdogans Vision einer „neuen Türkei“ist die einer muslimisch-konservativen, militärisch starken und national geeinten Präsidial-Republik – ganz anders als die Türkei Atatürks, in der die Westausrichtung Staatsräson war und die sich außenpolitisch meist zurückhielt.
Mit Erdogans „neuer Türkei“konfrontiert, reagiert Deutschland bisher verhalten. Die Bundesregierung hat EU-Sanktionen gegen die Türkei verhindert, weil sie argumentiert, dass ein Dialog mit Ankara mehr erreichen könne. Erdogans Provokationen gegen Griechenland im östlichen Mittelmeer und die Beschimpfungen gegen Macron bringen Berlin jedoch in Schwierigkeiten. Bis zum 10. Dezember wird sich die Bundesregierung etwas Neues überlegen müssen, denn an diesem Tag entscheidet der EUGipfel über Sanktionen gegen Ankara.