Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Das Vermächtni­s einer Theaterfre­undin

Renate Wagner war der treueste Dauergast des Ulmer Theaters – Über ihre Erinnerung­en

- Von Dagmar Hub

ULM/NEU-ULM - Die Theaterbeg­eisterung seiner Mutter hat Thomas Wagner nicht geerbt. Geerbt hat der Sohn, der im März 78-jährig unerwartet verstorben­en, wohl leidenscha­ftlichsten Besucherin des Theaters Ulm, aber deren akribisch geführte Fotoalben und die Gästebüche­r, in denen sich jene Sänger, Schauspiel­er, Tänzer, Intendante­n und TheaterMit­arbeiter in Wort und Bild verewigt haben, die Gäste der von ihr organisier­ten „Mittwochsg­espräche“waren. Renate Wagner hatte Prinzipien – eines davon war eine rote Rose für jeden Gast. Ein anderes war jene Akribie, mit der sie die Gäste aus dem Theater dokumentie­rte – und in beschrifte­ten Fotoalben auch ihr eigenes Leben.

„Renate Wagner“steht in ihrer sauberen Handschrif­t hinten in jedem der Fotobücher. Daten, Namen, Ereignisse – es ist ein Stück Ulmer Kulturgesc­hichte, das Renate Wagner in den tatsächlic­h 65 Jahren gesammelt hat, in denen sie Theaterabo­nnentin war. Dieses Erbe soll, so will es ihr Sohn Thomas, ins Stadtarchi­v und für Interessie­rte zugänglich sein – wobei die Corona-Pandemie derzeit Gespräche verhindert, die Regelungen schaffen sollen. Denn in den Gästebüche­rn finden sich viele Eintragung­en in Wort, Bild und Zeichnung, die von inzwischen verstorben­en Persönlich­keiten stammen. Gerade in den jüngeren Gästebüche­rn sind es aber natürlich vor allem Eintragung­en lebender Personen, die ihre Einwilligu­ng geben müssten, damit ihre Seiten in den Gästebüche­rn für die Öffentlich­keit einsehbar sind.

Die Einträge zeugen von großer Herzlichke­it, von der Freude über die Auszeichnu­ng, eine der roten Rosen erhalten zu haben. Viele Gäste schufen Einträge, die weit über solche Zeilen hinausging­en – es gibt tief philosophi­sche und persönlich­e, und es gibt auch einzelne Sätze, die sich beispielsw­eise über den Ulmer Gemeindera­t lustig machen. Manch ein Kaffeeflec­k ziert die Bände – wer immer beim Schreiben und Zeichnen gerade Kaffee trank und kleckerte, das wird ein Geheimnis bleiben.

Den Anfang der Einträge machte Pavel Fieber, Intendant in Ulm von 1985 bis 1991; er starb im Juli, nur vier Monate nach Renate Wagner. Beim Festakt zum 50. Geburtstag des Ulmer Theatergeb­äudes dürften sich beide im Herbst 2019 noch begegnet sein. Einträge von Opernstars wie Angela Denoke sind zu finden, die ihre Karriere in Ulm begann und deren Weg dann an die Metropolit­an Opera nach New York, London, Paris oder an die Bayerische Staatsoper führten.

Und der Betrachter begegnet vielen, die er in bestimmten Rollen in Erinnerung hat – Bassbarito­n Nikolaus Meer ist darunter, Erwin Belakowits­ch und Maximilian Schells Witwe Iva Mihanovic, die in Mozarts

„Zauberflöt­e“einst als Papageno und Papagena begeistert­en. Friederike Frerichs, die heute in Berlin lebt, Chris Barber, der inzwischen 90-jährige große Posaunist und Jazzsänger, der so gern nach Ulm kam.

Die Gesichter und Einträge verstorben­er Künstler blicken den Leser an – oft mit noch jungen Zügen: Franziska Stolze, die jung verstorben­e Schwester der Schauspiel­erin Lena Stolze, die unter Intendant Pavel Fieber in Ulm spielte, oder Ulla Willick zum Beispiel, die Renate Wagner in ihrem Eintrag zur Spielplanb­eraterin machen wollte. Jörg-Heinrich Benthien, 2016 bei einer Probe im Theater Ulm gestorben, widmete den Theaterfre­unden einen mit Filzstift gemalten Blumenstra­uß mit der Überlegung, dass man ein wenig verrückt sein müsse, um Theater zu machen. Aber: „Wie verrückt muss man eigentlich sein, sich alles anzusehen?“

Die vielleicht philosophi­schste aller Eintragung­en stammt von Schauspiel­er Walter von Have, der 82-Jährig in Ulm lebt und am Theater große Rollen wie den Milchmann Tevje im Musical „Anatevka“verkörpert­e. Er schrieb Renate Wagner im Februar 1999 unter anderem ins Gästebuch, dass es leichter sei, wirklich zu sterben, als den Tod gut zu spielen.

In Ulm und über Ulm hinaus: Ihren 18. Geburtstag feierte Renate Wagner im August 1959 mit einer Fahrt nach Berlin. Wie dieses Wissen erhalten geblieben ist? Mit säuberlich­en Einträgen in einem ihrer Alben – und mit den Eintrittsk­arten. Den US-Film „Windjammer“sah sie im Sportpalas­t kurz vor dem Geburtstag, und gleich danach war sie in der Städtische­n Oper Berlin – im 2. Rang auf Platz Nummer 34.

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FOTO: DAGMAR HUB Berlin, 1959: Renate Wagner (oben links im Bild) feiert ihren 18. Geburtstag – natürlich mit einem Besuch in der Oper. Ihre Erinnerung­en sollen jetzt öffentlich zugänglich gemacht werden.

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