Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Im reichen Deutschland sitzen wir irgendwie noch in der digitalen Steinzeit fest“
Dr. Thomas Hanstein aus Erbach möchte helfen, eine Hemmschwelle zu überwinden
ERBACH - Das Thema „Homeschooling“ist in diesen Zeiten in aller Munde. Im Frühjahr, zu Beginn der Corona-Pandemie, waren Lehrer, Schüler und Eltern von einem Tag auf den anderen damit konfrontiert – und damit zum großen Teil überfordert, ist sich Thomas Hanstein aus Erbach sicher. Zusammen mit dem Bad Mergentheimer Andreas Lanig hat er zwei Bücher über digitales Lernen geschrieben, zuletzt ein praktisches Methodenbuch für den Fernunterricht, das nach nur vier Wochen vergriffen war, bald aber wieder zu haben sein soll. SZ-Redakteur Reiner Schick hat mit ihm über die Intention und Inhalte des Buchs gesprochen.
SZ: Herr Hanstein, wie entstand die Idee zu Ihrem Buch?
Thomas Hanstein: In meiner Freizeit biete ich seit einigen Jahren virtuelle Coachings für Lehrende einer Hessischen Hochschule an. Dabei geht es vor allem um den Umgang mit neuen Medien und den Stress, der damit oft verbunden ist. Andreas Lanig ist dort als Professor tätig und hat seine Doktorarbeit zur virtuellen Lehre geschrieben. Ich habe zur Kompetenzentwicklung promoviert. Da sind unsere Interessen zusammengeflossen und wir haben zuerst das Buch „Spirituelle Kompetenz in digitalen Lernund Arbeitswelten“geschrieben und dann mit „Digital lehren. Das Homeschooling-Methodenbuch“auf die aktuellen Corona-Herausforderungen reagiert.
Das bedeutet?
Im Frühjahr wurde der virtuelle Raum für Schulen und Hochschulen plötzlich alternativlos. Über Nacht galt es, ins „Homeschooling“umzuschalten. Vielfach hat dies Überforderungen bei Kindern und Eltern zurückgelassen. Und die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Lehrkräfte auf die Herausforderungen der virtuellen Lehre noch unvorbereitet sind.
Lassen Sie uns über das Homeschooling-Methodenbuch sprechen. An wen ist es vor allem gerichtet?
An Lehrende an weiterführenden Schulen, an Kollegen in der Lehrerfortbildung und auch an Schulleiter.
Als Grundlage dienten Umfragen unter Schülern und Lehrern. Was kam dabei heraus?
Wir haben knapp 500 Schüler an mehreren beruflichen Schulen befragt, und zwar kurz nach der ersten Homeschooling-Phase zu Beginn der Corona-Pandemie. Sie haben uns zurückgemeldet, was ihnen am meisten gefehlt hat: Soziale Kontakte, Lernatmosphäre und Lernmethoden. Dazu haben wir Lehrende, die schon seit einigen Jahren zum Teil in der virtuellen Lehre tätig sind, nach ihren Erfahrungen gefragt. Sie haben uns zurückgemeldet, dass sie im Durchschnitt vier Methoden aus dem analogen Alltag auch im digitalen Unterricht anwenden und etwa 40 Prozent einer Unterrichtsstunde zusätzlich für die Vorbereitung benötigen. Unterstützung wird vor allem bei technischen und methodisch-didaktischen Fragen gewünscht, und bei dem, was wir „spirituelle Kompetenz“nennen, also das gesunde Handling der neuen Formate und eine angemessene Selbstsorge.
Welche Schlüsse zogen Sie daraus für Ihr Buch?
Daraus und aus unseren eigenen Erfahrungen – ich bin selbst Lehrer an einer weiterführenden Schule – haben wir die Erkenntnis gewonnen: Der Fernunterricht verändert massiv die Tagesstruktur, auch bei Lehrern. Und der Aufbau guten Fernunterrichts braucht Zeit und Übung. Wir brauchen mehr Experimentierfelder fürs virtuelle Lernen.
Was ist darunter zu verstehen?
Angesichts steigender Corona-Infektionszahlen fordern Gewerkschaften und Elternverbände verstärkt Wechselunterricht zwischen Präsenz- und
Homeschooling ein, auch die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für die Pandemiestufe 3 gehen in diese Richtung. Das wird bislang nicht aufgegriffen. Die Kultusminister setzen auf Präsenz, alle Energie wird auf den Regelbetrieb gelegt – nur die Schüler, die wegen Quarantäne zu Hause bleiben müssen, werden versorgt. Dabei haben wir diesen Wechselunterricht nach dem ersten Lockdown doch durchaus schon erfolgreich praktiziert. Da war es notwendig, dass ein Teil der Schüler im Klassenzimmer und der andere parallel zuhause unterrichtet wird. Auf diesen positiven Erfahrungen müsste es gelten anzusetzen. Dazu braucht es Zeit. Stattdessen kommt aktuell die virtuelle Versorgung einzelner Schüler zum üblichen Unterrichtspensum noch obendrauf.
Wie erklären Sie sich die Zurückhaltung?
Wir alle haben das Erfahrungsbild der physischen Schule. So sind wir sozialisiert, die Institution und der physische Ort gehören unbewusst zusammen. Es gibt noch nicht genügend positive Erfahrungen mit dem virtuellen Unterricht, das führt zu einer großen Hemmschwelle. Dabei muss man wissen: Es braucht einige Zeit und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Wir nennen das im Buch den Übergang von der digitalen Anreicherung zur digitalen Integration. Der große Haken ist: Viele meinen, Unterricht muss im physikalischen Raum stattfinden. Dieses Denkmuster im Kopf muss verändert werden. Es ist ein Lernprozess für alle, fürs ganze Land, geht aber nur durch positive
Erfahrungen mit Fernunterricht und nicht unter Stress, nicht nebenher und obendrauf.
Haben wir diese Zeit? Dem steht die Sorge entgegen, die Schüler könnten wichtige Lerninhalte verpassen.
Es geht ja nicht darum, komplett auf virtuellen Unterricht umzustellen. Wir nennen es in unserem Buch die hybride Gestaltung – eine Mischung aus Präsenz- und digitalem Unterricht. Ich zum Beispiel habe meine Schüler gleich zum Schuljahresbeginn mit viel mehr gedrucktem Material versorgt als sonst. Wenn man das macht, muss man sich nicht damit stressen, ob es gelingt, das Material später über digitale Wege an alle Schüler zu bekommen. Man kann sich vielmehr ganz auf die Methodik des digitalen Unterrichts konzentrieren. Hauptsächlich ging es im Frühjahr doch um die Frage, wie man sein Material von A nach B bringt. Das ist nachvollziehbar, Information ist aber nicht Pädagogik. Es muss mehr um das WIE gehen, nicht nur um das Was.
Wie kann das aussehen?
Gar nicht so viel anders als der analoge Unterricht. Jeder Lehrer hat ein Sammelsurium an Methoden, mit denen er im Präsenzunterricht gute Erfahrungen macht. Ganz viel davon lässt sich auch ins Virtuelle übertragen. Die Lehrer müssen nur den Mut zur Umsetzung haben und wissen, dass sie nicht alles Bisherige in Frage stellen oder komplett neu machen müssen. In unserem Buch – es hat insgesamt 400 Seiten – gehen wir sehr ausführlich auf die Methodik und die Übertragung ins Virtuelle ein, insgesamt 64 erprobte Methoden stellen wir vor. Ganz wichtig ist, dass die
Lehrer und Schüler digital miteinander arbeiten und nicht jeder in seiner Blase sitzt. Wir müssen uns sehen und sprechen können. Man kann Menschen auch virtuell zusammenführen. Hierfür gibt es verschiedene Apps oder Tools, mit denen sich das gut bewerkstelligen lässt. Auch davon stellen wir einiges vor.
Können Sie uns ein konkretes Beispiel für die Methodik-Übertragung nennen?
Lehrende und Lernende treffen sich immer in einem Raum, egal ob analog oder virtuell. Er ist Ort der Begegnung, der Erfahrung, der Identifizierung. Und genau das ist Unterricht: dass Menschen zusammengebracht werden und miteinander Erfahrungen machen. Im Buch beschreiben wir zum Beispiel das „hybride Lerncamp“. Ich habe es in einem kleinen Experiment im Sommer ausprobiert: Es hieß „virtuelles Waldbaden“und war eine Mischung aus Bild- und Audio-Inputs im virtuellen Raum und eigenen Arbeitsaufträgen in der realen Natur. Diese wurden im Anschluss in virtueller Gruppenarbeit ausgewertet. Klar sah auch mein virtueller Raum aus wie im Wald. Das atmosphärisch entsprechend zu gestalten, ist digital mindestens so gut möglich wie analog. Es unterstrich unser Thema und gab der Lerngruppe eine starke Identifizierung, und zwar miteinander und mit dem Raum. Verbundenheit geht virtuell, das durfte ich in solchen Erlebnissen erfahren.
Vielerorts scheitert sinnvoller digitaler Unterricht an mangelhafter Technik – in der Schule, beim Lehrer und nicht zuletzt bei den Schülern. Da hilft das beste Methodenbuch nichts...
Das ist richtig. Die passende Ausstattung ist die Grundlage für virtuelles Lernen. Alle Schüler müssen mit Laptops ausgestattet sein, natürlich auch alle Lehrer. Das kann noch eine ganze Zeit dauern. Aber an der Infrastruktur darf es nicht scheitern. Wir sind in vielen Dingen ein hochentwickeltes Land, aber es gibt Länder, die sind uns in diesem Bereich um Lichtjahre voraus. Da sitzen wir im reichen Deutschland irgendwie noch in der digitalen Steinzeit fest. Ein „einfach weiter so“wird uns nicht schützen. Die Krise ist auch eine Chance, die „hybride Schule von morgen“anschlussfähig zu machen.