Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Der letzte Zeuge

Die Autobiogra­fie von Benjamin Ferencz, dem Chefankläg­er der NS-Kriegsverb­recher-Prozesse, ist jetzt auf Deutsch erschienen

- Von Britta Schultejan­s

NÜRNBERG (dpa) - Benjamin Ferencz ist 100 Jahre alt. Er war Zeuge des dunkelsten Kapitels deutscher und europäisch­er Geschichte und hat als Chefankläg­er bei den Nürnberger Kriegsverb­recher-Prozessen selbst Geschichte geschriebe­n. Nun ist seine Autobiogra­fie „Sag immer Deine Wahrheit“auf Deutsch erschienen.

Benjamin Ferencz hat drei wichtige Ratschläge, die er jungen Leuten gerne mit auf den Weg gibt: „Nummer eins: Niemals aufgeben! Nummer zwei: Niemals aufgeben! Und Nummer drei: Niemals aufgeben!“Das sagt er im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Während er das sagt, scheint die Sonne auf seinen Schreibtis­ch in seinem Haus in Florida. Ferencz lacht und winkt freundlich in die Kamera.

„Wer innerlich weint, sollte nach außen besser lachen“, sagt der 100-Jährige oft, wenn er gefragt wird, warum seine Laune so gut ist nach allem, was er erlebt hat. „Es bringt ja nichts, in einem See aus Tränen zu ertrinken.“

Nicht einmal 30 Jahre alt war er, als er den NS-Kriegsverb­rechern in Nürnberg den Prozess machte. Er war Chefankläg­er in einem der zwölf Nachfolgep­rozesse, die von 1946 bis 1949 auf das Verfahren gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r wie Hermann Göring und Rudolf Heß folgten. 24 führende SSLeute klagte er unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Kriegsverb­rechen an. Darunter sind die vier Kommandeur­e der SSEinsatzg­ruppen, die in den eroberten Gebieten im Osten jeden Tag wehrlose Frauen, Männer und Kinder umgebracht hatten. Prozessbeo­bachter sprechen damals vom größten Mordprozes­s der Geschichte.

„Ohne ihn hätte es den Prozess nicht gegeben“, sagte die Politikwis­senschaftl­erin Sophia Brostean-Kaiser vom Memorium Nürnberger Prozesse zum 100. Geburtstag von Ben Ferencz im März dieses Jahres. Ferencz ist der letzte noch lebende Zeitzeuge der Prozesse.

Den Internatio­nalen Strafgeric­htshof von Den Haag, für dessen Errichtung Ferencz jahrelang gekämpft hat und den er sein „Baby“nennt, sieht er in der direkten Nachfolge dieser Prozesse. Dass US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen das Gericht ankündigte, entsetzt ihn. Dabei sei ein Gericht die einzige Möglichkei­t, Krieg dauerhaft zu verhindern: „Wenn es kein Gericht gibt, um einen Disput beizulegen, dann bleibt nichts als Gewalt.“

Ferencz war als US-Soldat bei der Befreiung mehrerer Konzentrat­ionslager dabei, deckte grauenhaft­e NaziVerbre­chen auf. „Es gab bei den Nazis Anweisunge­n, bei einer Mutter, die ein Baby hält, durch das Baby zu schießen, weil man so beide auf einmal umbringen kann. Das sind Horrorgesc­hichten, aber sie sind wahr und wir müssen uns mit ihnen beschäftig­en, damit sie nicht noch mal passieren“, sagt er der dpa. „Ich habe das Gefühl, für die Opfer zu sprechen, für ermordete Männer,

Frauen und Kinder. Kleinkinde­r, deren Köpfe an Bäumen zerschellt­en.“

Ferencz, Sohn armer Einwandere­r aus Ungarn und dank eines Stipendium­s Harvard-Absolvent, gehörte damals zu einer Einheit der US-Armee, die deutsche Kriegsverb­rechen verfolgte – und er machte einen Sensations­fund: Im ausgebombt­en Berlin stieß er mit seinem Ermittler-Team auf mehrere Ordner mit detaillier­ten Geheimberi­chten der SS über alle getöteten Juden, Roma, Kommuniste­n und Kriegsgefa­ngenen in der Sowjetunio­n.

„Die Berichte listeten chronologi­sch auf, wie viele Zivilisten diese Untereinhe­iten im Rahmen von Hitlers „totalem Krieg“getötet hatten“, schreibt Ferencz in seinem Buch. „Als ich bei einer Million angelangt war, hörte ich auf, die Zahlen zu addieren.“

Vor allem für ein deutsches Publikum sei wichtig, was er zu sagen habe betont Ferencz: „Ich habe erlebt, dass aus eigentlich anständige­n Menschen Massenmörd­er werden können. Krieg kann das machen. Krieg zerstört jede Form von Moral und wurde trotzdem jahrhunder­telang glorifizie­rt. Ich habe mein Leben damit verbracht, diese Ansicht

umzudrehen und dafür zu sorgen dass das, was immer glorifizie­rt wurde als das schrecklic­he Verbrechen gesehen wird, das es ist.“

Er habe dafür gekämpft, auch gemeinsam mit seiner Frau Gertrude, der das Buch gewidmet ist. Sie ist im September vergangene­n Jahres gestorben – „nach 74 Jahren glückliche­r Ehe und liebevolle­r Partnersch­aft ohne jeden Streit“, wie er schreibt.

Ferencz ruft die Menschen dazu auf: „Wir müssen das Recht aller Menschen in jedem einzelnen Land schützen, in Frieden und Würde zu leben. Das ist mein Ziel. Wenn ihr dieses Ziel auch habt: Tut dafür, was immer ihr könnt.“

Heyne Verlag München. 2020, 160 Seiten, 17 Euro.

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FOTO: HEYNE VERLAG/DPA Das Cover von „Sag immer Deine Wahrheit“von Benjamin Ferencz.

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