Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Plötzlicher Reformeifer
Erdogan verkündet Aufbruch für Demokratie
ISTANBUL - Noch vor Kurzem versicherte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen Landsleuten, ihr Land sei ein „aufsteigender Stern“der Weltwirtschaft. Seit einigen Tagen hört sich das anders an. Erdogan spricht von „bitterer Medizin“und von der Notwendigkeit, das Vertrauen internationaler Investoren zurückzugewinnen. Seit dem Rücktritt seines Schwiegersohns Berat Albayrak als Finanzminister zeigt sich Erdogan wieder als Reformer: Für Wirtschaft, Justiz und Demokratie hat er einen „Aufbruch“ausgerufen. Es gibt sogar Spekulationen über eine Freilassung des Kunstmäzens und Demokratieaktivisten Osman Kavala, dessen Inhaftierung seit Jahren von der EU scharf kritisiert wird.
Offenbar will sich Erdogan von Albayrak distanzieren und seinen Schwiegersohn, der bis vor Kurzem noch als sein möglicher Nachfolger galt, zum Sündenbock machen. So will Erdogan erst bei einer Unterrichtung durch den neuen Zentralbankchef Naci Agbal kurz von Albayraks Rücktritt am 8. November erfahren haben, dass die Notenbank rund 100 Milliarden Dollar für den vergeblichen Versuch verschleudert hat, den Kurs der Landeswährung Lira zu stützen. Regierungskritische Journalisten weisen darauf hin, dass in Erdogans Präsidialsystem keine wichtige Entscheidung ohne den Präsidenten getroffen wird. Schon mehrfach in seiner langen Karriere hat der 66-jährige Erdogan seine Wendigkeit bewiesen. Als er sich 2013 nach langer Zusammenarbeit mit der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen überwarf, beteuerte Erdogan, er sei von Gülen hintergangen worden. Heute ist Gülen der Staatsfeind
Nummer 1. Wenn der Präsident eine Kehrtwende einlege, seien nicht einmal Mitglieder seiner eigenen Familie wie Albayrak sicher, schrieb die Journalistin Nevsin Mengü von der Onlineplattform Duvar.
Grund für das jüngste Manöver ist die desolate Wirtschaftslage. Unter Albayrak hatte die Lira seit Jahresbeginn zeitweise 45 Prozent gegenüber Dollar und Euro verloren. Die Arbeitslosigkeit von 13,2 Prozent wird mit einem Entlassungsverbot wegen der Corona-Pandemie und nach Meinung von Kritikern auch mit geschönten Zahlen künstlich niedrig gehalten. Viele Unternehmen haben hohe Devisenschulden. Weil Erdogan auf niedrige Zinsen besteht, konnte die Zentralbank bisher die Leitzinsen nicht anheben, um die Inflation von zwölf Prozent zu bekämpfen. Nun signalisiert Erdogan, dass er einer Leitzinserhöhung bei der ersten Zentralbanksitzung unter Agbal zustimmen wird. Justizminister Abdulhamit Gül, der die Festnahme Hunderttausender mutmaßlicher Regierungsgegner zu verantworten hat, kritisiert seit Neuestem die vielen Verhaftungen. Das von der Regierung kontrollierte Aufsichtsgremium für die Justiz interessiert sich für den Fall von Osman Kavala, der seit mehr als drei Jahren in Untersuchungshaft gehalten wird. Manche Anhänger Kavalas hoffen, dass sich damit eine Freilassung andeutet. Mit Kavalas Entlassung würde die Türkei eine wichtige Forderung der EU erfüllen, des wichtigsten Handelspartners des Landes. Die Opposition bezweifelt, dass Erdogans neuer Reformeifer echt ist. Konkrete Reformschritte wie die Zulassung einer unabhängigen Justiz und einer unabhängigen Zentralbank würden Erdogans Macht einschränken.