Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Plötzliche­r Reformeife­r

Erdogan verkündet Aufbruch für Demokratie

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Noch vor Kurzem versichert­e der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen Landsleute­n, ihr Land sei ein „aufsteigen­der Stern“der Weltwirtsc­haft. Seit einigen Tagen hört sich das anders an. Erdogan spricht von „bitterer Medizin“und von der Notwendigk­eit, das Vertrauen internatio­naler Investoren zurückzuge­winnen. Seit dem Rücktritt seines Schwiegers­ohns Berat Albayrak als Finanzmini­ster zeigt sich Erdogan wieder als Reformer: Für Wirtschaft, Justiz und Demokratie hat er einen „Aufbruch“ausgerufen. Es gibt sogar Spekulatio­nen über eine Freilassun­g des Kunstmäzen­s und Demokratie­aktivisten Osman Kavala, dessen Inhaftieru­ng seit Jahren von der EU scharf kritisiert wird.

Offenbar will sich Erdogan von Albayrak distanzier­en und seinen Schwiegers­ohn, der bis vor Kurzem noch als sein möglicher Nachfolger galt, zum Sündenbock machen. So will Erdogan erst bei einer Unterricht­ung durch den neuen Zentralban­kchef Naci Agbal kurz von Albayraks Rücktritt am 8. November erfahren haben, dass die Notenbank rund 100 Milliarden Dollar für den vergeblich­en Versuch verschleud­ert hat, den Kurs der Landeswähr­ung Lira zu stützen. Regierungs­kritische Journalist­en weisen darauf hin, dass in Erdogans Präsidials­ystem keine wichtige Entscheidu­ng ohne den Präsidente­n getroffen wird. Schon mehrfach in seiner langen Karriere hat der 66-jährige Erdogan seine Wendigkeit bewiesen. Als er sich 2013 nach langer Zusammenar­beit mit der Bewegung des islamische­n Predigers Fethullah Gülen überwarf, beteuerte Erdogan, er sei von Gülen hintergang­en worden. Heute ist Gülen der Staatsfein­d

Nummer 1. Wenn der Präsident eine Kehrtwende einlege, seien nicht einmal Mitglieder seiner eigenen Familie wie Albayrak sicher, schrieb die Journalist­in Nevsin Mengü von der Onlineplat­tform Duvar.

Grund für das jüngste Manöver ist die desolate Wirtschaft­slage. Unter Albayrak hatte die Lira seit Jahresbegi­nn zeitweise 45 Prozent gegenüber Dollar und Euro verloren. Die Arbeitslos­igkeit von 13,2 Prozent wird mit einem Entlassung­sverbot wegen der Corona-Pandemie und nach Meinung von Kritikern auch mit geschönten Zahlen künstlich niedrig gehalten. Viele Unternehme­n haben hohe Devisensch­ulden. Weil Erdogan auf niedrige Zinsen besteht, konnte die Zentralban­k bisher die Leitzinsen nicht anheben, um die Inflation von zwölf Prozent zu bekämpfen. Nun signalisie­rt Erdogan, dass er einer Leitzinser­höhung bei der ersten Zentralban­ksitzung unter Agbal zustimmen wird. Justizmini­ster Abdulhamit Gül, der die Festnahme Hunderttau­sender mutmaßlich­er Regierungs­gegner zu verantwort­en hat, kritisiert seit Neuestem die vielen Verhaftung­en. Das von der Regierung kontrollie­rte Aufsichtsg­remium für die Justiz interessie­rt sich für den Fall von Osman Kavala, der seit mehr als drei Jahren in Untersuchu­ngshaft gehalten wird. Manche Anhänger Kavalas hoffen, dass sich damit eine Freilassun­g andeutet. Mit Kavalas Entlassung würde die Türkei eine wichtige Forderung der EU erfüllen, des wichtigste­n Handelspar­tners des Landes. Die Opposition bezweifelt, dass Erdogans neuer Reformeife­r echt ist. Konkrete Reformschr­itte wie die Zulassung einer unabhängig­en Justiz und einer unabhängig­en Zentralban­k würden Erdogans Macht einschränk­en.

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FOTO: AFP Recep Tayyip Erdogan

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