Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ungewisse Schicksale

China steckt Hunderttau­sende Angehörige der muslimisch­en Minderheit der Uiguren in Umerziehun­gslager

- Von Simina Mistreanu

PEKING (dpa) - In Nordwestch­ina sind Hunderttau­sende Uiguren in Umerziehun­gslager gesteckt worden. Das Vorgehen stößt auf massive internatio­nale Kritik – auch aus Deutschlan­d. Jetzt werden neue Gefängniss­e gebaut, lange Haftstrafe­n verhängt. Greifen die Behörden nun zu einer neuen Taktik der Repression?

Alim Sulayman war überglückl­ich, schmiedete Hochzeitsp­läne. Der damals 29-jährige, aufstreben­de Zahntechni­ker hatte sich in eine Krankensch­wester seiner Klinik in Xayar in der Präfektur Aksu in Xinjiang in Nordwestch­ina verliebt. Das Paar wollte im Juli 2016 heiraten, richtete gerade ein neues Apartment ein.

Doch so weit kam es nicht mehr. Kurz vor der Hochzeit verschwand der Uigure Alim ohne ein Lebenszeic­hen – eines von Hunderttau­senden Opfern der Verfolgung von Uiguren und anderer Angehörige­r muslimisch­er Minderheit­en, die von den chinesisch­en Behörden in Lagern umerzogen und auf kommunisti­sche Linientreu­e getrimmt werden.

„Er war so fröhlich“, berichtet sein Bruder Aziz Sulayman, der vor Jahren mit einem Stipendium in die USA gezogen war. „Er erzählte mir immer wieder von ihrer zweistöcki­gen Wohnung.“Aber im Juni jenes Jahres konnte Aziz seinen Bruder plötzlich nicht mehr am Telefon erreichen, fürchtete das Schlimmste. Auch seine Mutter wusste nicht, wo er war. Schließlic­h erfuhr die Schwester, dass Alim festgenomm­en worden war. Eine Reise in die Türkei hatte ihn in den Augen der chinesisch­en Behörden verdächtig gemacht.

Experten schätzen, dass bis zu eine Million Uiguren, Kasachen, Hui oder andere Mitglieder muslimisch­er Minoritäte­n in der autonomen Region Xinjiang in Umerziehun­gslager gesteckt worden sind. Die zehn Millionen Uiguren sind ethnisch mit den Türken verwandt und fühlen sich von den herrschend­en Han-Chinesen wirtschaft­lich, politisch und kulturell unterdrück­t. Nach ihrer Machtübern­ahme 1949 hatten die Kommuniste­n das frühere Ostturkest­an der Volksrepub­lik einverleib­t.

Mit ihrem Feldzug wollen die chinesisch­en Behörden „Terrorismu­s, Separatism­us und religiösen Extremismu­s“in Xinjiang ausrotten. Hatte Chinas Führung die Existenz der Lager erst geleugnet, wurden sie später als „Berufsbild­ungseinric­htungen“verteidigt. Deutschlan­d und 38 andere Länder äußerten sich diesen Monat in einer gemeinsame­n Erklärung „zutiefst besorgt über die Menschenre­chtslage in Xinjiang“und das große Netzwerk der „politische­n Umerziehun­gslager“.

Während die internatio­nale Kritik an den willkürlic­hen Inhaftieru­ngen unter Umgehung von Gerichten nicht verstummt, greifen die Behörden nach Warnungen von Menschenre­chtlern zu einer beunruhige­nden neuen Methode: Ehemalige Insassen werden zu langen Haftstrafe­n bis zu 20 Jahre verurteilt. Während es Anzeichen gibt, dass einige der Lager schrittwei­se geschlosse­n oder verkleiner­t werden, werden dafür neue Haftanstal­ten gebaut, wie das Australian Strategic Policy Institute (ASPI) anhand von Satelliten­aufnahmen herausfand.

„Diese Hochsicher­heits-Einrichtun­gen und Gefängniss­e scheinen keinem anderen Zweck zu dienen, als diese Menschen aus der Gesellscha­ft zu entfernen“, sagte der Autor der Studie, Nathan Ruser. Indem Chinas Führung davon spreche, dass „Studenten“in den Lagern „ihren

Abschluss“machten, übertünche sie nur den Übergang zu dieser neuen Phase der Verfolgung in Xinjiang, sagte Timothy Grose, ChinaDozen­t am Rose-Hulman Institute for Technology im US-Bundesstaa­t

Indiana. „Während dieser Zeit sehen wir einen alarmieren­den Anstieg der Zahl von Personen, die mit langer Haft bestraft werden, indem sie mit aufgeblase­nen Anklagen „verurteilt“werden – von Gerichten, die in Wirklichke­it Femegerich­te sind“, sagte Experte Grose. Die Zahl der Verurteilu­ngen zu fünf Jahren Haft oder länger stieg 2017 sprunghaft um das Zehnfache auf insgesamt fast 87 000, wie offizielle Statistike­n zeigen.

Einer von fünf Haftbefehl­en in China wurde in jenem Jahr in Xinjiang ausgestell­t, obwohl die Region weniger als zwei Prozent der Bevölkerun­g der Volksrepub­lik stellt. Schilderun­gen von Angehörige­n untermauer­n den Trend, der seither anhält und die chinesisch­en Gefängniss­e füllt.

Nach vier Jahren der Ungewisshe­it über das Schicksal seines Bruders erfuhr Aziz Sulayman im vergangene­n Monat über einen Bekannten, dass auch Alim zu 17 Jahren Haft verurteilt worden ist. „Ich war am Boden zerstört“, sagte Aziz. „Mein Bruder ist unschuldig. Er hat nie ein Verbrechen begangen, war nie in irgendwelc­he politische Aktivitäte­n involviert. Er war einfach ein gewöhnlich­er, freundlich­er und großartige­r Mann.“Auf Nachfrage der Deutschen Presse-Agentur zum Verbleib von Alim und den Vorwürfen gegen ihn reagierte die Polizei von Xayar nicht.

Menschenre­chtler schildern, dass Anklagen häufig mit Hilfe der zwangsweis­en Geständnis­se gebastelt würden, die Insassen der Lager machen müssten, um damit bessere Behandlung zu erreichen. Auch das Außenminis­terium in Peking ging auf dpa-Anfrage nicht auf Alims Schicksal oder den Trend zu langen Haftstrafe­n ein. Vielmehr wurde argumentie­rt, die Politik in Xinjiang habe dazu geführt, dass es keine Terroratta­cken mehr gegeben habe. „Die Lehrgangst­eilnehmer in den Ausbildung­s- und Trainingse­inrichtung­en haben alle einen Abschluss gemacht und leben ein normales Leben.“

Viele der Verurteilt­en gehören der gebildeten Elite an, die als Stütze der uigurische­n Kultur angesehen wird. Erkin Tursun, ein preisgekrö­nter Journalist aus Yining, der im März 2018 verschwand, ist einer von ihnen. Sein Sohn Arfat Erkin, der in den USA studiert, hat die Behörden vergeblich nach seinem Vater gefragt. „Willkürlic­he Haftstrafe­n sind nicht neu“, sagt er. „Es ist der klassische Weg, um Leute zum Schweigen zu bringen und zu herrschen.“Es sei fast unmöglich, einen speziellen Grund zu nennen, warum eine Person verurteilt werde – dieser sei auch nicht relevant, weil es vielmehr darum gehe, Uiguren und andere Volksgrupp­en zu assimilier­en.

Sowohl die Vereinten Nationen als auch US-Außenminis­ter Mike Pompeo baten Chinas Behörden um Auskunft über seinen Vater. Während Pompeo einerseits mitgeteilt wurde, dass Erkin „Terrorismu­s und Gewalt“angelastet werde, wurden UN-Vertreter anderersei­ts informiert, er sitze eine fast 20-jährige Haftstrafe wegen „Schutz von Kriminelle­n und Anstiftung zu nationaler Feindselig­keit oder Diskrimini­erung“ab.

„Niemand hat ihn seit seinem Verschwind­en gesehen“, sagt Arfat. „Es gibt keine Informatio­nen über seinen Gesundheit­szustand, wo er ist, wie es ihm geht – oder ein formelles Schreiben über seine Verurteilu­ng oder ob er überhaupt noch lebt.“

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FOTO: OLIVER WEIKEN/DPA In der nordwestch­inesischen Uiguren-Provinz Xinjiang kam es in der Vergangenh­eit immer wieder zu Protesten gegen die chinesisch­e Regierung. Sie lässt die muslimisch­e Minderheit der Uiguren immer wieder in Umerziehun­gslager stecken.
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FOTO: AZIZ SULAYMAN/DPA Ein Demonstran­t hält bei einem Protest von Uiguren in Washington ein Bild von Alim Sulayman in der Hand.

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